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Kultur: Im Paris der 20er

Wie Mensch und Maschine zusammenfinden: Starklarinettistin Sabine Meyer und vier Musiker im Nikolaisaal

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„Was Sie hier hören, sind 200 Gramm Musik.“ – Das ist ein Paradox und doch stimmte es beinahe beim Konzert „Paris mécanique“ am Freitagabend im Nikolaisaal. Starklarinettistin Sabine Meyer und drei weitere Klarinettisten lieferten sich mit einer veritablen Drehorgel einen kuriosen Wettstreit.

Bizarr wirkte allein schon der Anblick der fünf Musiker auf der Bühne: Hier die vier Klarinettisten, wie sie stehend mit vollem Körpereinsatz ihren Instrumenten Töne entlockten, dort der Drehorgelspieler Pierre Charial, der gleichförmig am Rad drehte, während sein Instrument die mitreißendsten Klänge verströmte. Selten wurde das alte Thema „Mensch versus Maschine“ so sinnfällig vorgeführt. In der Romantik ging dieser Vergleich zugunsten des lebendigen Menschen mit seinem fühlenden Herzen aus. Heute dagegen lesen wir in Berichten zur Gehirnforschung Meldungen wie „Mensch und Maschine rücken immer näher zusammen“.

Das „Trio de Clarone“ und der Jazz-Klarinettist Michael Riessler nehmen eine verbindliche Position ein und zeigen, dass Mensch und Maschine keine unversöhnlichen Gegensätze sein müssen. Vor allem dann, wenn die Maschine von einem so erfindungsreichen Menschen wie Pierre Charial bedient wird. Er zaubert aus seiner eigens für ihn gebauten, 150 Kilo schweren, mit 156 Pfeifen und drei Registern ausgestatteten Drehorgel dermaßen facettenreiche Klänge, dass vorgefasste Abneigungen gegenüber monotoner Leierkastenmusik schlicht verblassen. Dazu kommt, dass Pierre Charial seine Musik selber anfertigt, indem er Lochkarten ausstanzt, die beim Spiel in langen Streifen ausgespuckt und wie bei einer Ziehharmonika zusammengefaltet werden – jede Karte wiegt vorher 600 Gramm und nachher rund 200 Gramm weniger, materialisierte Zeichen der eigentlich unsichtbaren und flüchtigen Musik.

Bei den Stücken für Soloorgel zog Pierre Charial alle Register seines Könnens. „Iguasu“ von Klaus Doldinger erweist sich als schäumender Orgelwasserfall, während Leroy Andersons „The Syncopated Clock“ und „The Typewriter“ köstlich swingend die mechanischen Maschinengeräusche imitieren.

Klar, dass bei dieser instrumentalen Zusammensetzung keine romantische Musik erklingen kann. Das vor zwanzig Jahren von Sabine Meyer, ihrem Bruder Wolfgang Meyer und ihrem Ehemann Reiner Wehle gegründete Trio di Clarone lässt gemeinsam mit Michael Riessler und Pierre Charial die zwanziger Jahre in Paris lebendig werden, eine Epoche im Zeichen von technischen Errungenschaften und antiromantischen, kubistischen Kunsttendenzen. Auf dem Experimentierfeld der damaligen Weltkunstmetropole entfalteten sich Künstler wie Eric Satie, Jean Cocteau, Pablo Picasso und natürlich die Komponisten der Gruppe „Les Six“.

Von Michael Riessler erklingt als Einleitung eine „Introduction mécanique“, in der neben Klarinetten und der Drehorgel (Odin) auch eine Singvogeldose, eine kleine Zungenorgel und ein kleines Sankyo-Spielwerk zum Besten gegeben wurden. Besonders bei seinen originellen, eigenen Kompositionen erweist sich Michael Riessler als absoluter Virtuose. Wie er in „I Venti“ und in „Conchita“ auf dem Sopransaxophon, der Sopran- und der Bassklarinette furios mit sich selber um die Wette spielt, das besitzt Sogkraft und Temperament.

Selbst die Starsolistin des Abends, Sabine Meyer, steht daneben etwas im Schatten. Ihre Soloauftritte bei Stücken von Jean Francaix, Igor Strawinsky und Darius Milhaud wirken bei aller fingerfertigen Beweglichkeit, grell-heller Jazzklänge und entfesselter Verve doch etwas angespannt. Die Spielerin versucht mit der Drehorgel mitzuhalten – ein ungleicher Zweikampf, bei dem die Maschine Geschwindigkeit und Ton angibt.

Locker und quirlig geht es bei Eric Saties „Jack in the box“ in einer Transskription für Klarinettenquartett und Drehorgel zu. Die „Danses exotiques“ von Jean Francaix versprühen südamerikanisches Flair und Scott Joplins „Solace“ entpuppt sich als bizarres, hochvirtuoses Stück, bei dem der Sopranklarinettist Michael Riessler brilliert und erneut mit seiner schwerelosen Permanentatmung beeindruckt.

Oft verweben sich die Instrumente zu einem Klang, bei dem man sich fragt, wer gerade welchen Effekt erzeugt. Die Interpretationen der fünf Musiker lassen einen vergessen, dass ein lochkartengesteuertes Instrument mitwirkt – eine äußerst kreative, musikalische und lebendige Zusammenarbeit von Mensch und Maschine.

Babette Kaiserkern

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