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Kultur: In der Unterwelt

Orpheus-Variationen im Nikolaisaal

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„Musik beeinflusst den Verstand“, eifert der iranische Ayatollah Chomeini 1979. „Sie ist Verrat für das Land, Verrat an unserer Jugend; man sollte sie ausmerzen und durch etwas Lehrreiches ersetzen.“ Mit solchen Ansichten befindet er sich in unguter Traditionslinie verbohrter Religionslehrer, die in der Musik eine Gefahr für alles Sittliche erblicken. Wie erfreulich, dass in Urzeiten dennoch der Orpheus-Mythos erfunden wird, in dem es um die wohltuende Wirkung der Musik geht. Durch sie vermag der Mensch sogar über die Natur zu triumphieren, wie Moderator Clemens Goldberg beim letzten „Klassik am Sonntag“-Konzert im Nikolaisaal das Publikum informiert. „Keine falsche Bewegung!“, so die unmissverständliche Programmtitelaufforderung, denn sonst ist Orpheusens Gattin bei der Heimholung aus der Unterwelt endgültig verloren. Oh weh.

In seiner Favola in musica „L’Orfeo“ kündet Claudio Monteverdi als einer der ersten Komponisten überhaupt von der unwiderstehlichen Macht der Töne. Im Prolog „Dal mio Parnasso amato“ erzählt die vom Sitz der Musen herabgestiegene allegorische Figur La Musica dem Publikum die ganze Geschichte von Orpheus’ Hochzeit mit Eurydike bis zu dessen Aufnahme in den Götterhimmel. Voller stimmlicher Schlichtheit und einprägsamer Direktheit entledigt sich die ungarische Sopranistin Emöke Baráth der anspruchsvollen Berichtsaufgabe. Dabei wird sie von den Brandenburger Symphonikern unter Michael Helmrath begleitet, der die überlieferte, nur spärlich notierte Notenvorlage (nicht mehr als die Continuo-Stimme) für einen modernen Klangkörper feinsinnig instrumentiert hat. Reichlich Blech (Trompeten, Posaunen, Hörner) und um historische Spielweise bemühte Streicher sorgen für die Anmutung eines erforderlichen herben Sounds. Zur Begleitung des Rezitativgesangs sorgt als Lautenersatz eine Harfe.

Fünfzig Opern später tritt Christoph Willibald Gluck mit seinem „Orpheus und Eurydike“ auf den Plan, in der er mit „einer neuen Natürlichkeit die Künstlichkeit der Opera seria ablösen will“, so der Moderator. Voller instrumentaler Leidenschaft breitet das Orchester den Tanz der Furien aus, imaginiert flötenlieblich und mit viel ätherischem Klangtüll den Reigen seliger Geister, begleitet anschmiegsam die Sängerinnen. Erneut begeistert die Sopranistin im zu Herzen gehenden Duettgesang „Vien appaga il tuo consorto“, bei dem sie sich mit der ausdrucksstarken israelischen Mezzosopranistin Hagar Sharvit zu berührender Innigkeit zusammenfindet. Letztere trägt anschließend Orpheus’ Klage „Che farò senza Euridice“ ohne tränenerstickte Stimme vor, beeindruckt durch schlichte Intensität.

Der Anblick einer etruskischen Vase und die Aufführung der Gluck-Oper in Weimar hätten Franz Liszt zur sinfonischen „Orpheus“-Dichtung inspiriert, erfahren die Zuhörer, die durch rauschhafte Harfenakkorde, Oboenkantilenen, Klarinettenwohlgefälligkeiten und Streicherüppigkeit in ein Meer des Wohllauts abtauchen können. Wieder aufgetaucht, können sie sich an der persiflierenden Mythosdeutung durch Jacques Offenbachs „Orpheus in der Unterwelt“ erfreuen. Reichlich Schmiss und Sentimentalitäten bieten Ouvertüre, Pastoral- und Fliegenballett, charmant vorgetragene Couplets der Eurydike und des Cupido (Emöke Baráth) und der Öffentlichen Meinung (Hagar Sharvit). Für die richtigen (Beifalls-)Bewegungen gibt es als Zugabe schließlich den ersehnten Cancan. Peter Buske

Peter Buske

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