Kultur: In sakral-archaischer Atmosphäre „Stabat Mater“-Vertonungen in der Russenhalle
Als er am Kreuze hing, dachte er nicht nur an den nahenden Tod. Jesu Gedanken waren auch davon erfüllt, was aus seiner Mutter werden würde.
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Als er am Kreuze hing, dachte er nicht nur an den nahenden Tod. Jesu Gedanken waren auch davon erfüllt, was aus seiner Mutter werden würde. Wie sie sozial absichern? „Als nun Jesu seine Mutter sah und bei ihr den Jünger, den er lieb hatte, spricht er zu seiner Mutter: ,Frau, siehe, das ist dein Sohn!“ Danach spricht er zu dem Jünger: ,Siehe, das ist deine Mutter!“ Und von Stund an nahm sie der Jünger zu sich.“ So steht es im Johannes-Evangelium. Danach verliert sich der Mutter Spur aus der biblischen Geschichte. Nicht so aus dem Gedächtnis der Christenheit. Ihrem Leiden und Klagen über den Tod des geliebten Sohnes widmet sich ein lateinisches Gedicht, das mit den Worten „Stabat Mater dolorosa juxta crucem lacrimosa“ (Es stand die Mutter schmerzensreich bei dem Kreuz, tränenreich) beginnt. Diese Verse könnten nicht packender von den Seelenqualen einer Mutter künden. Sie sind oft vertont worden. Beispielsweise vom Barocker Giovanni Battista Pergolesi (1710-1736) und dem Avantgardisten Arvo Pärt (geb. 1935). Beide Werke hat das T-Werk für sein erstes eigenes Musiktheater-Projekt gegenüber gestellt. Ein kühnes Unterfangen, das durch die Ernsthaftigkeit des Anliegens und der eindringlichen Umsetzung alle Erwartungen übertroffen hat (musikalische Leitung: Pawel Poplawski; Regie: Jens-Uwe Sprengel; Ausstattung: Heide Schollähn). Dabei korrespondiert die Kargheit des Raumes – die Russenhalle in der Schiffbauergasse – mit der herben Musiksprache beider Stücke ganz vorzüglich. Denn wo sonst manches gefällige Kircheninnere die Sinne vom Sinn des Textes und seiner Vertonung ablenkt, können sich hier Geist und Seele ganz auf die Marienklage konzentrieren. Viel Szenepublikum hat sich eingefunden, um – auf längsseitiger Tribüne sitzend – vielleicht erstmalig kirchenmusikalischen Offenbarungen zu lauschen. Entsprechend cinemascopisch zeigt sich die „Bühne“. Sie ist durch einen Gazeschleier vom Zuschauerraum getrennt. Die Szene versinkt in totaler Finsternis, aus der wie von fern spröde Pärtsche Tonfolgen, von vier Streichern erzeugt, an das Ohr dringen. Danach folgt Vokalisengesang im gregorianischen Stil. Langsam lichtet sich das Dunkel, werden die weit voneinander postierten Instrumentalisten und drei jungen Sänger in Lichtkegel gehüllt. Sehr beeindruckend. Von der Decke hängen unzählige weiße Hemden, die sich später allmählich herab senken. Sollt dadurch eine Stelle des Passionsberichtes („Sie haben meine Kleider unter sich geteilet, und über mein Gewand haben sie das Los geworfen") illustriert werden? Alle Beteiligten sind in weißes Linnen gekleidet, was sich farbsymbolträchtig als Ausdruck von Freude, Unschuld oder Herrlichkeit deuten ließe. Nachdem die erforderliche sakral-archaische Stimmung erzeugt ist, folgt der textverständliche Gesang von Pärts klangherber „Stabat Mater“-Vertonung. Den schnörkellosen Gestus treffen Juliane Sprengel (Sopran) mit gläserner Eindringlichkeit, Henny Mirle (gefühlvoller Alt) und Christian Schossig (lyrischer Tenor) sehr direkt. Manche Unfertigkeit der Tonbildung wirkt dabei regelrecht ausdrucksverstärkend. Pärts spröder Musik folgt die nicht minder meditative Klage-Ausdeutung von Pergolesi. Den Frauenstimmen gesellt sich diesmal ein (eng beieinander sitzendes) Streichquintett hinzu. Die theatralischen Beigaben beschränken sich auch hier auf gemessenes, würdevolles Schreiten im leeren, halbdunklen Raum, wodurch sich die düsteren Empfindungen nur noch verstärken. Die jeweils Singende wird ins Licht gerückt. Scheinwerfer lassen am Boden ein Kreuz aus Licht entstehen, projizieren die Musiker als überlebensgroße Schattenrisse. Ihr straffes Musizieren, ihre genaue Artikulation und analytische Phrasierung sowie der Sängerinnen introvertierte, empfindungsvolle Vorträge gehen unter die Haut. Den Versuch, neues Publikum an die Kirchenmusik außerhalb von Kirchen und Konzertsälen heranzuführen, darf man getrost als gelungen bezeichnen. Die Künstler werden anhaltend und intensiv bejubelt.Peter Buske
Peter Buske
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