Kultur: Intimität und Abschied
Andreas Dresen moderierte das Filmgespräch zu „Vergiss mein nicht“ von und mit David Sievekin im Filmmuseum
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Wie ist es, wenn die eigene Mutter den Sohn nicht mehr erkennt, weil ihr Gedächtnis aufgrund einer Alzheimer-Erkrankung unaufhaltsam schwindet. Regisseur David Sieveking hat einen Dokumentarfilm über die letzten Jahre seiner an Alzheimer erkrankten Mutter Gretel Sieveking, über den Umgang seiner Familie mit der tragischen Veränderung gedreht. Als letztes „Aktuelles Potsdamer Filmgespräch“ vor der umbaubedingten Schließung des Marstalls war „Vergiss mein nicht“ am Dienstagabend im vollbesetzten Saal des Filmmuseums zu sehen, bevor die Reihe ab April ins Thalia umzieht. Dass Filmemacher Andreas Dresen die Moderation übernommen hatte, schuf eine besondere Konstellation für dieses Gespräch: Es wurde auch durch die achtungsvolle Begegnung zweier Regisseure geprägt.
Während seine Mutter Gretel ihr Gedächtnis verliert, wird David Sieveking klar, wie wenig er über sie weiß. In einer Art Doppelfunktion als Sohn und Filmemacher begleitet er sie auf ihrer Reise: auf der inneren Reise, an der sie ihre Angehörigen manchmal teilhaben lässt. Bruchstückhaft. Und auf der realen Reise an die Orte ihrer Vergangenheit und in die Lebensgeschichte des emeritierten Mathematikprofessors Malte Sieveking und seiner ehemals schönen und charismatischen Gattin Gretel Sieveking: der früheren Fernsehmoderatorin und späteren politischen Aktivistin, über deren als „staatsfeindlich“ eingestufte Aktivitäten der Schweizer Geheimdienst in den 70er Jahren dicke Akten führte, über die starke Ehefrau und Mutter, die sich immer für die Gleichberechtigung einsetzte. Der Mut, den diese Entscheidung zur Verfilmung sicher nicht nur von David Sieveking, sondern von der ganzen Familie erforderte, hat sich gelohnt. Der Film entfaltet eine sehr berührende emotionale Kraft. Lachen – das angesichts des schweren Themas nicht nur erlaubt, sondern ausdrücklich gewünscht sei, darauf hatte David Sieveking vor der Vorführung hingewiesen – und Weinen liegen dicht beieinander: Wenn etwa David seiner Mutter erklärt, dass Malte ihr Mann und er selbst ihr Sohn sei, wirkt das zunächst komisch. Ebenso die erfolglosen Bemühungen verschiedener Therapeuten oder die Anstrengungen der Familie, Gretel zur Einnahme von Medikamenten zu bewegen. Später ergänzte der Regisseur im Gespräch, dass die Schaffung einer anderen Atmosphäre zu Hause eine unvergleichlich größere Wirkung gehabt hätte als Tabletten.
Ob es nicht auch eine Gnade sein kann, wenn die Erinnerung verblasst und man sich nicht mit den Zweifeln des gelebten Lebens herumschlagen muss, wollte Andreas Dresen wissen, der an diesem Film die Schönheit der Familie, aber auch die Schönheit der kranken Gretel, ihr berührendes kindliches Strahlen als tröstlich empfand. „Demenz ist an sich eine philosophische Veränderung“, sagte David Sieveking. „Sie bringt einen auf sehr grundlegende Fragen. Man könnte auch sagen: Ist es nicht ein schöner Abgang, indem man sich geistig entfernt? Und nicht mehr an den Dingen klammert, die einem wichtig erschienen.“ Auch die Frage, wo der Sohn aufhört und der Filmregisseur anfängt und umgekehrt, interessierte den Regie-Kollegen. „Ich bin froh, wenn etwas Interessantes passiert und ich bin noch glücklicher, wenn die Kamera dabei läuft“, antwortete Sieveking, berichtete aber auch von Momenten, in denen er als Sohn überfordert das Projekt hinwerfen wollte. Am Ende jedoch habe sein Vater gesagt, die Dreharbeiten seien eine Zeit der Zuwendung für seine Mutter gewesen.
„Die Verquickung von Privatem und Politischem, von Intimität und Abschied und von all dem Schönen, was man darin finden kann und mitnimmt ins eigene Leben, macht den Film für mich ganz groß“, resümierte Dresen. Gabriele Zellmann
Gabriele Zellmann
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