Kultur: Islambild ist deformiert
„Im Islam ist der soziale Komplex religiös und die Religion des Islams ist der Islam selbst.“ Dieses Islambild existiert seit Beginn des 20.
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„Im Islam ist der soziale Komplex religiös und die Religion des Islams ist der Islam selbst.“ Dieses Islambild existiert seit Beginn des 20. Jahrhunderts. Sowohl Orientalisten als auch Islamisten teilen es gleichermaßen, sagte Dietrich Jung, Professor am dänischen Institut für Internationale Studien in Kopenhagen, in seinem Vortrag in der Landeszentrale für politische Bildung. Jung arbeitet zurzeit an einem Forschungsprojekt, das die Konstruktion des gegenwärtigen Islambildes untersucht. Er stellte fest, dass dieses Bild in der globalen Öffentlichkeit unangefochten verbreitet ist. Ebenso die These von der Unveränderbarkeit und Entwicklungsresistenz des Islams.
Seit dem 11. September hätte das Islambild in der Weltöffentlichkeit noch einen bedrohlichen Aspekt hinzubekommen. Diese Tatsache erschwere das friedliche Zusammenleben auch in Europa. Immerhin gäbe es in den Staaten der EU augenblicklich 15 Millionen Muslime, in Deutschland drei Millionen. Die Schwierigkeiten zeigten sich nicht zuletzt im Streit um den Bau von Moscheen. Jung erklärte, dass er auf Grund seiner Studien nachweisen konnte, dass dieses Islambild ein konstruiertes Bild sei, das die sehr komplexen nationalen Gegebenheiten in den unterschiedlichen Ländern mit überwiegend muslimischer Bevölkerung nicht berücksichtigte, wie in der Türkei, Ägypten, Indien, Malaysia und Iran. Die Herrschaftsstrukturen und politischen Inhalte dieser Länder wären sehr unterschiedlich.
Warum gäbe es dennoch in der Weltöffentlichkeit dieses totale soziale Systembild? Jungs Untersuchungen sehen die Ursache in einer komplexen Entwicklung. Sie wäre auf eine Verschmelzung der inner-islamischen Reformlehre und der intellektuellen Auseinandersetzung mit der kolonialen Moderne zurückzuführen. Hinzu kämen wissenschaftlich-literarische Interpretationen des Westens. Aus dieser Verschmelzung wäre eine Überlagerung von Selbstbeschreibung und Fremdbeschreibung entstanden, die das Islambild bis zur Unkenntlichkeit deformiert habe. Seit Beginn der Moderne hätte es einen weltweiten Diskurs über Politik, Religion und Moral gegeben, an dem auch Orientalisten und liberale islamische Reformer beteiligt waren.
Antikoloniale Kämpfe, imperiale Gedanken und antistaatliche Ideologien hätten in den 50er Jahren zu einer Militarisierung des Islam geführt. Eine antiimperialistische Haltung werde von ihren Vertretern durch willkürlich verwandte Koranzitate untermauert.
In der Diskussion wurde nach der Radikalisierung und der Entstehung des transnationalen Terrors gefragt. Jung verwies darauf, dass die islamische Geschichte eine Verfallsgeschichte bedeute, die aufgehalten werden sollte. Politischer Widerstand konnte sich bisher nur als Gewaltwiderstand verstehen, der durch die Medien eine zunehmende Popularisierung erhielte. Aggressivität wäre immer ein typisches Merkmal von ideologischer Indoktrinierung. Auch trüge das ungelöste Palästinaproblem zur Radikalisierung bei. Auf das Armutsproblem ließe sich die Radikalisierung des Islams nicht reduzieren. Die Armen hätten keine Kräfteressourcen für politische Kämpfe. Sie hätten mit dem Überlebenskampf hinreichend zu tun. Die Akteure kämen aus der gut ausgebildeten Mittelklasse, beschloss Dietrich Jung seinen Vortrag, der noch für viele weitere Diskussionen ausreichend Stoff geboten hätte. Barbara Wiesener
Barbara Wiesener
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