Kultur: Jahrhundertwerk aus dem Norden
Walter Kempowski hat mit „Abgesang “45“ sein Echolot vollendet / Morgen liest er in der Reithalle A
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Walter Kempowski hat mit „Abgesang “45“ sein Echolot vollendet / Morgen liest er in der Reithalle A Damals, im April 1945, „hätte auf der Spandauer Brücke nur ein Posten zu stehen brauchen, dann lebte ich heute nicht mehr“, heißt es im Tagebuch „Alkor“ des Jahres 1989. Hatte Walter Kempowski den Krieg zwar überstanden, war nicht sicher, ob er auch die acht Jahre Haft in Bautzen überstehen könnte. Er war 19 Jahre alt, als er verhaftet wurde. Er trug ein „Ami-Hemd – also Spion!“. Andere verloren die Freiheit, weil sie auf der Suche nach Essbarem waren. Einer wurde geschnappt, als er in Leipzig Heringe gegen Seidenstrümpfe tauschen wollte: „Nun dichteten sie ihm Spionage an“. Es hatte keinen Sinn, nach dem Grund zu fragen, das russische Tribunal fertigte nach Quoten ab. „Als alles ausgestanden war, fünfundzwanzig Jahre wegen Spionage, plauderten wir noch ein Weilchenüber das Wetter.“ Kempowskis Debüt-Roman „Im Block“ (1968) erzählt seine und die Geschichten der Mithäftlinge präzise, schnörkellos. Er hat den Autor zum Autor gemacht mit einer eigenen Sprache, die bis heute ihresgleichen sucht. Sein Stil vereint Realismus und Gerechtigkeit. Es folgten viele Bestseller, darunter „Tadellöser & Wolff“ (1971) und zuletzt der querulatorische Altersroman „Letzte Grüße“ (2004). Nebenher nährte Kempowski bald 25 Jahre sein Archiv der Biographien und Dokumente, das im „Echolot“ seinen Niederschlag gefunden hat und nun mit dem „Abgesang “45“ endet. Es umfasst nur vier Tage: den 20. und 25. April sowie den 8. und 9. Mai 1945. Ein Diarium aus dem Tollhaus des 20. Jahrhunderts, dessen Spannung vor allem aus der Einebnung der Hierarchien erwächst, aus den unorthodoxen Schnitten. Es treten auf: Reichsmarschall Hermann Göring weinend beim Abschied von Karinhall, Eva Braun, die „mit den Sekretärinnen jeden Tag“ Schießübungen veranstaltet, ein Schüler, der seinen Vater als Volkssturmmann die weiße Flagge hissen sieht und Hitler, der an seinem Geburtstag mit Wolf, seinem Lieblingswelpen von Blondi, spielt. Und auf der anderen Seite Alisah Shek aus dem KZ Theresienstadt: „das Ärgste, was sie uns angetan haben, ist, sie haben uns des Wirklichen beraubt, des Begriffs von Wirklichkeit“. Des weiteren russische Soldaten, Zwangsarbeiter, Kriegsgefangene, Schriftsteller, Politiker; ein Chor des Krieges und seiner Opfer. Angst, Schlottern, Sterben überall. Es muß ein tiefer liegendes Motiv geben, das den Autor zu dieser „besessenen“ Schürf- und Archivarbeit genötigt hat, die ihm auch seelisch und körperlich zusetzt: „Es heißt Schuld ... So ist das Haus Fluchtburg, Gefängnis zugleich, eine Festung, die mir verhilft, das Sühnewerk zu vollenden“ (Kempowski). So ist das Haus in Nartum Archiv und Heilanstalt zugleich. Das ist die pathologische Seite des Autors, der der Kollektivschuldthese trotzt, indem er sie in seinem Werk annimmt. Selbst die Unschuld des ehemaligen Bautzenhäftlings Kempowski kehrt sich durch die Ignoranz und Ablehnung, die ihm nach der Übersiedlung in die Bundesrepublik 1956 entgegenschlugen, in eine imaginäre Schuld – als Antriebs- undSchmiermittel seines Schaffens. Im Gefängnis gab es ein Urerlebnis als Auslöser für das Schreiben überhaupt und für das „Echolot“ im Besonderen. Als Kempowski an einem Winterabend des Jahres 1950 im Gelben Elend von Bautzen über den Gefängnishof geführt wurde, hörte er ein „eigenartiges Summen“. Da hatte er noch sechs Jahre Haft vor sich. Das Summen waren die Kameraden in ihren Zellen, „die erzählen sich was“. Für zwei Minuten war Kempowski der einzige Zuhörer. Ein „babylonischer Chorus“, der es verdient, wahrgenommen zu werden. Im Vorwort zum „Abgesang´45“ erinnert er an das Bild „Alexanderschlacht“ von Albrecht Altdorfer, auf dem Tausende Krieger einander umbringen, „Menschen ohne Namen, längst vermodert und vergessen“, deren „Keime wir als Nachkommen in uns tragen“. Mit dem Abschluss des zehnten Bandes ist das Werk vollendet und Walter Kempowski denkt darüber nach, sein gesamtes Archiv der Akademie der Künste zu schenken, jener Institution, die für diesen Autor bislang wenig übrig hatte. Kann man sich Kempowski mit dieser Arbeit als einen glücklichen Menschen vorstellen? All die Tragödien und Toten, die gekränkten, verlorenen Seelen im eigenen Haus. Das Glück der Anstrengung, des Gelingens vielleicht, aber die Zeichen der Galeere sind zu deutlich. In Kempowskis Tagebüchern „Sirius“, „Alkor“ und zuletzt „Culpa. Notizen zum Echolot“ findet man darauf Antworten. Da heißt es an einer Stelle sinngemäß, Glück bedeutet: zu Hause „Dick und Doof“ gucken und dabei Schokolade essen. Wer würde ihm da widersprechen. Hendrik Röder Morgen, 19.30 Uhr, liest Kempowski aus „Abgesang´45“ im Hans Otto Theater (Reithalle A). Eine Veranstaltung des Brandenburgischen Literaturbüros, der Konrad-Adenauer-Stiftung und des HOT.
Hendrik Röder
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