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Kultur: Je älter, je seltsamer
Das Berliner Folkpop-Duo „Sorry Gilberto“ spielte am Freitag in der Reithalle gereifter als früher, aber nicht weniger überraschend
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Es ist eine überschaubare Gruppe an Besuchern, die sich am nasskalten Freitagabend in der Reithalle zum Konzert von „Sorry Gilberto“ einfindet, doch das Berliner Duo ist erfahren darin, auch in mittelgroßen Räumlichkeiten eine heimelige Wohnzimmeratmosphäre zu erschaffen. Zudem sind Anne von Keller und Jakob Dobers mit „diesem ganz schön hohen Raum“ vertraut. Bereits zum dritten Mal haben die Veranstalter des „Nachtboulevards“ sie eingeladen, Stammgäste konnten so die Entwicklung einer der beständigsten Formationen aus der hauptstädtischen Free-Folk-Szene über einen längeren Zeitraum verfolgen.
Am Erscheinungsbild des Duos – die feenhafte Bassistin und Organistin im kurzen Karokleid auf der einen, der schlaksige Cardigan-Träger mit elektrischer Ukulele in Brusthöhe auf der anderen Seite – hat sich seit dem ersten Album von 2008 auf den ersten Blick wenig verändert. Im Aufbau der Lieder und in der Art ihrer Präsentation aber haben sich „Sorry Gilberto“ doch deutlich verändert: Während früher die unisono vorgetragenen Refrains selbst für Ersthörer geeignet waren, um auf französischen Küchenpartys oder in schwedischen Fußgängerzonen mit einzustimmen, erreichen die neuen Lieder ihr Publikum zwar auf weniger interaktive, aber nicht minder direkte Weise.
In „Part Of Me“ etwa beschreibt Anne von Keller mit Jakob Dobers Worten und minimaler E-Gitarrenbegleitung, wie das so ist, wenn man sich einerseits empfänglich für alle kleinen Begebenheiten zeigt, dann aber die gehorteten sinnlichen Eindrücke im entscheidenden Moment nicht mehr abrufbereit hat. Auch wenn dieser Umstand dann mit einem mitleidsvollen „Wowowowow“ selbstironisch gebrochen wird, fällt das mantra-artig wiederholte Resümee „Oh life, the longer you have it, the stranger it gets“ dann doch nachdenklich aus. Es folgt mit „New Sensations“ ein weiteres „Lied übers Älterwerden,“ in dem sich der Forty-Something Dobers seinen Lebensabend ausmalt und dabei hofft, seine lang vergangene Jugend nicht für das Ende der Avantgarde zu halten.
„Das nächste Stück handelt von einem Tapir“, kündigt Jakob Dobers dann den gleichnamigen Song an. Von dem Tier hätte ja vermutlich jeder im Publikum ein Bild vor Augen. Auf ihrer Tour durch Frankreich aber seien er und von Keller unter anderem auch nach Lille gekommen – und hätten dort tatsächlich einen Tapir gesehen – „der aber überhaupt nicht unserer Vorstellung entsprach – der war unglaublich riesig, träge und lag so rum – das ist schon so die Idee bei dem Lied, aber bei uns ist er schon etwas fluffiger“, sagt Dobers.
Dann legen die beiden wieder los mit verzerrter Rockgitarre, zurückgenommenem Gesang . Das Ganze erinnert manchmal an Funny van Dannen und manchmal an Leonard Cohen, immer wieder reflektieren die beiden auch das eigene Künstlerdasein oder einfach die kleine Sucht, ständig durchs Fenster zum Hof zu schauen. Vielleicht keine seltene Sucht: Beständig jauchzende „Huhs!“ aus dem Publikum geben „Sorry Gilberto“ recht. Markus von Schwerin/Ariane Lemme
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