Kultur: Jede Silbe ein Schlag in die Magengrube „Kasimir und Karoline“ an der Schaubühne
Unvergessen, wie „der Merkl Franz“ vor 18 Jahren bei Christoph Marthaler in Hamburg „seiner Erna“ in die bereitwillig geöffnete Handtasche kotzte! An dieser lapidaren Verdichtung der Situation, die Ödön von Horváths Oktoberfest-Stück „Kasimir und Karoline“ in üppigen 117 Szenen behandelt, muss sich seither jeder Regisseur messen lassen.
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Unvergessen, wie „der Merkl Franz“ vor 18 Jahren bei Christoph Marthaler in Hamburg „seiner Erna“ in die bereitwillig geöffnete Handtasche kotzte! An dieser lapidaren Verdichtung der Situation, die Ödön von Horváths Oktoberfest-Stück „Kasimir und Karoline“ in üppigen 117 Szenen behandelt, muss sich seither jeder Regisseur messen lassen. In der Schaubühne hat sich jetzt Jan Philipp Gloger an das Drama um den frisch entlassenen „Kraftwagenführer“ Kasimir gewagt, der missmutig auf dem Oktoberfest herumsteht, während sich seine Freundin Karoline von blondierten Kommerzienräten für ihren „netten Popo“ loben und zu „feudalen Kabriolett-Fahrten“ einladen lässt.
Handtaschen werden während dieses grandios misanthropischen Auf- und Abstiegsringelpiezes, das 1932 in Leipzig uraufgeführt wurde, auch bei Gloger geöffnet. Allerdings nicht zur pragmatischen Entgegennahme partnerlicher Körperflüssigkeiten. Sondern, im Gegenteil, zur romantischen Herausgabe putziger Süßigkeiten. Kasimir und Karoline führen an der Schaubühne nämlich eine Beziehung, in der entscheidende Konflikte mithilfe von Schaumzuckermäusen gelöst werden – was das Wesen des Abends im Grunde schon ganz gut auf den Punkt bringt.
Gloger macht aus Horváths bitterbösem Volksstück eine Art heutiges Beziehungsmelodram, das – Wirtschaftskrise! ökonomisch instrumentalisierte Paarbeziehungen! – gleichzeitig Modellcharakter für sich beansprucht: Die Schauspieler absolvieren die bierseligen Oktoberfest-Szenen weitgehend requisitenfrei auf leerer Bühne vor einer schwarzen Leinwand. Darauf werden Horváths Regieanweisungen und Ortsangaben projiziert: Achterbahn, Hippodrom, Wagnerbräu.
Könnte aber genauso gut sein, wir befinden uns auf einer Stuttgarter After-Work- Party oder in einer Berliner Randbezirksdiskothek. Sicher ist nur so viel: Der prinzipiell abstiegsbedrohte junge Mensch von heute trägt Turnschuhe zum Sakko, Lederjacke zum kleinen Schwarzen und hat’s weniger mit Ironie oder gar Sarkasmus als die schlüpfrige Seniorengeneration à la Kommerzienrat Rauch. Selbst das eher hartgesottene Kleinkriminellenpaar Merkl Franz (Sebastian Schwarz) und Erna (Iris Becher) hat seine elegischen Momente.
Moritz Gottwald und Jenny König in den Titelrollen machen aus Horváths lakonischem Dialog-Pingpong, bei dem die Kontrahenten sozusagen mit jeder Silbe einen Schlag in der Magengrube des Gegenübers versenken, ein ernsthaft umeinander bemühtes Beziehungsgespräch. Und zwar – wie das dieses Genre halt so an sich hat – gelegentlich haarscharf an der Grenze zum Moralinen. Das ist zwar ein durchaus streitbares, aber prinzipiell gar nicht mal unspannendes Experiment – zumal die beiden Schauspieler die Klaviatur des klassischen Zweisamkeitseinfühlungsdramas erstklassig beherrschen: Man kokettiert, schmollt, adressiert die im Frustsuff ersonnenen Verwünschungen in Ermangelung des Partners an den Kumpel, der sie nicht hören will, und schaut, wie weit man damit so kommt. Hauptsache, man holt im richtigen Moment die Schaumstoffmaus raus!
Dann allerdings tritt das abschleppwillige Senioren-Duo Rauch und Speer auf – und dreht den Abend in die Karikatur. Wenn Robert Beyer als Kommerzienrat Rauch Karoline zur „feudalen Kabriolett-Fahrt“ einlädt, ergeht er sich allen Ernstes in untermalender Unterleibsgymnastik. Dass er auf den letzten Metern des Abends tatsächlich noch sein Blondhaartoupet verliert, will man eigentlich gar nicht glauben. Speer, sein Kompagnon, schwärmt unterdessen mit verklemmt zusammengepressten X-Beinen von irren Ritten auf Prachtstuten. Und die Szene mäandert zäh und sehr weit weg ihrem unguten Ende entgegen. Christine Wahl
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