Von Barbara Wiesener: Jede Sorte von Glück
Martina Gedeck las im Nikolaisaal aus den Briefen Brigitte Reimanns an ihre Eltern
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Beinahe klösterlich karg erscheinen der einsame Tisch und der leere Stuhl auf der großen Bühne des Nikolaisaales. Gut geeignet für den Auftritt der eleganten schönen Schauspielerin Martina Gedeck, der eine nahezu sinnliche Angleichung an die Autorin Brigitte Reimann gelingt. Aus deren insgesamt 450 Briefen an die Eltern, die der Aufbau Verlag pünktlich zum 75. Geburtstag der Schriftstellerin erstmals veröffentlichte, las die Schauspielerin zum Auftakt der 17. Berlin-Brandenburger Buchwochen.
Der Briefwechsel unter dem Titel „Jede Sorte von Glück“ erzählt vor allem davon, wie schwer es Brigitte Reimann gefallen sei, sich vom Elternhaus zu trennen, um mit dem zweiten Ehemann Siegfried Pietschmann in Hoyerswerda ein eigenständiges Leben zu beginnen, sagte Angela Drescher, die Herausgeberin des Briefwechsels vor der Lesung.
Nur auf das geschriebene Wort konzentriert, beginnt Martina Gedeck ohne Kommentar den ersten Brief zu lesen, den Brigitte Reimann am 1. Februar 1960 in Hoyerswerda schrieb. Martina Gedecks warme Stimme gibt jedem Wort eine überaus wichtige Bedeutung. Reimann erzählt von den Mühen, aus der liederlich gebauten Neubauwohnung, ein gemütliches Heim zu kreieren. Wenn es am Nötigsten fehlt. Besonders am Geld. Neben der größten Brikettfabrik Europas soll das junge Schriftstellerehepaar realitätsnahe Literatur produzieren. Die Begeisterung der Arbeiter über die jungen Schriftsteller, die an verschiedenen Werktagen in der Produktion arbeiten, hält sich zunächst in Grenzen. Das geringe Honorar, das die Schriftsteller für verschiedene kulturelle Veranstaltungen und den Schreibzirkel erhalten, zeigt, dass hier nur Muskelarbeit zählt. So gibt es viele Bittbriefe: „Unser Geld ist jämmerlich zusammengeschmolzen (wir haben nur noch 600 Mark auf dem Konto). Die Anschaffungen haben eben doch eine Menge gekostet.“
Aber ein erstes gemeinsames Hörspiel, das die Republikflucht thematisiert, und einen deutlichen Klassenstandpunkt zeigt, bringt den ersten sichtbaren Erfolg, den die Tochter stolz den Eltern mitteilt: „bei uns war in der letzten Zeit ein unheimlicher Trubel, es ging zu wie bei Prominenten, die Reporter gaben einander die Klinke in die Hand.“ In die Freude über die ersten prämierten Arbeiten mischt sich die Trauer und Entrüstung über die Flucht der Bruderfamilie nach Hamburg: „Die ganze Geschichte mit Lutz“ Republikflucht ist mir doch mächtig nahe gegangen und ich versuche, sie mir nun vom Herzen zu schreiben.“ Als sie die ersten Kapitel des „Geschwister“-Romans veröffentlicht, gibt es ein Zerwürfnis mit den Eltern. Sie erklärt, „dass ein großer Unterschied zwischen Literatur und Wirklichkeit besteht und jeder Schriftsteller aus dem eigenen Erleben schöpft.“
Zunehmend formuliert Brigitte Reimann in den Briefen an die Eltern das zentrale Problem ihres Schreibens: „Wieviel Realismus ist möglich? Wie viele Alltagsprobleme müssen ausgespart bleiben?“ Beinahe zeitgleich mit ihrem Franziska Linkerhand-Roman beginnt die Liebesgeschichte mit Jon, der eine zentrale literarische Gestalt des neuen Romans wird. Den besorgten Eltern schreibt sie: „Es ist also nicht allein meine Schuld, dass es so gekommen ist, und Jon ist nicht Ursache sondern Wirkung.“ Als nach dem 11. Plenum viele kritische Filme und Manuskripte abgewiesen werden, schreibt Reimann: „Unsere Laune ist auf dem Nullpunkt.“
Während in Prag die Hoffnung auf den „Prager Frühling“ stirbt, sitzt sie bereits auf den Umzugskisten für Neubrandenburg. Gleichzeitig wird ihre Krebserkrankung festgestellt. In Neubrandenburg angekommen, erfährt sie, dass Jon nicht nachkommen wird. Eine andere Frau erwartet von ihm ein Kind. Den bestürzten Eltern schreibt sie tapfer: „Allmählich werde ich schon darüber hinweg kommen.“ Als sich die Krebserkrankung zum zweiten Mal meldet, heiratet sie den Arzt Rudi B.: „Als ich ihm gebeichtet habe, dass ich eine halbierte Frau bin, hat er gelacht, weil ich das so tragisch nehme. Ärzte denken über solche Dinge eben anders.“ Die letzten Briefe kann Reimann nur noch im Liegen schreiben. Sie zeugen von ihrem unbedingten Willen, das Franziska-Buch zu beenden. Der letzte Brief ist im Januar 1973 geschrieben, als sie zum letzten Mal nach Berlin-Buch ins Krankenhaus fährt. „Für Rudi wurde es doch zu viel. Mal sehen was für ein Zimmer ich kriege, und außerdem geht“s gleich mit einer Pferdekur los.“
Als Martina Gedeck mit dem letzten Brief leise von der Bühne geht, stellt sich nur zaghaft der überaus verdiente Applaus ein. Niemand mochte den Klang und die Kraft der Worte stören.
Barbara Wiesener
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