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Kultur: Jüdische Gebetsgesänge voller Inbrunst Synagogale Musik in der Erlöserkirche

Eines muss man der Liturgie des jüdischen Gottesdienstes lassen: Sie hat sich im Verlaufe der Jahrhunderte veränderten Verhältnissen rasch angepasst. Gestaltete früher der Kantor den jüdischen Gottesdienst allein, wobei er vorbetete und vorsang, trat ihm, als Einfluss christlicher Musik, später ein Ensemble zur Seite.

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Eines muss man der Liturgie des jüdischen Gottesdienstes lassen: Sie hat sich im Verlaufe der Jahrhunderte veränderten Verhältnissen rasch angepasst. Gestaltete früher der Kantor den jüdischen Gottesdienst allein, wobei er vorbetete und vorsang, trat ihm, als Einfluss christlicher Musik, später ein Ensemble zur Seite. Zunächst auf Männer- und Kinderstimmen begrenzt, durften dann auch Frauen mitsingen. In dieser Form der gemischten Besetzung präsentierte sich das 16-köpfige Ensemble „Keduscha“, das aus Mitgliedern des Rias-Kammerchores besteht, bei seinem umjubelten „Vocalise“-Auftritt in der Erlöserkirche. „Lischmoa El harina“ (Hört unser Lied) nannte sich die Zusammenstellung, die Angehörigen der jüdischen Gemeinde aus Potsdam und Berlin aus der Seele sangen.

Doch auch jene, die christlich glauben oder gar atheistisch wissen, konnten sich letztlich dem Sog der ausgebreiteten Gefühle nicht entziehen. Gesänge voller Fröhlichkeit, Eindringlichkeit oder Ergriffenheit, tönend von Selbstbewusstsein, Gläubigkeit und vom Einssein mit sich und Gott wussten zu begeistern – auch wenn man nichts davon verstand. Zum Mitlesen der Texte und ihrer deutschen Übertragungen war der Kirchenraum zu sehr eingedunkelt. Umso intensiver konnte man sich ins jüdische Melos mit seinen traditionellen Melodien und mehrstimmigen Harmonien versenken, die Gedanken frei schweifen lassen. Um den Unkundigen ein wenig Hilfe zu gewähren, erläuterte Dirigent Ud Joffe den Inhalt und die Verwendung der Gebetsgesänge, die er in zwei thematischen Programmblöcken zusammengefasst hatte. Sie kündeten von Höhepunkten der synagogalen Liturgie und des jüdischen Lebenszyklus.

Eröffnet wurde die Folge von größtenteils unbegleiteten Gesängen, die am Schabbat, dem heiligen Freitag, gesungen werden, mit dem erhabenen Gebet „Shma Yisrael“ (Höre Israel). Vorgetragen wurde es von dem jungenhaften, ausstrahlungsstarken und stimmgewaltigen Azi Schwartz, der als Kantor der Park Avenue Synagoge in New York wirkt. Eindrucksvoll, mit großer religiöser Inbrunst schwang sich sein kräftiger, strahlender, kristallklarer, heller und offen klingender Tenor durchs Gotteshaus. Dazu gesellte sich ein Summ-Chor. Im lyrischen „W’schomru“ konnte die gemischte Sängerschar dann von der Pflicht künden, dass die Söhne Israels den Schabbat hüten und feiern sollen. Auch in den anderen Gesängen gingen perfekte Intonation, exzellenter Zusammenklang und Ausdruckfülle der Stimmen eine staunenswerte Verbindung ein. Und immer wieder überstrahlte der Kantor mit intensivem Gesang, exorbitanter Höhe und enormer Präsenz alle und alles.

Auch nach der Pause, in der die hohen Feiertage wie Neujahrs- und Laubhüttenfest oder Jom Kippur mit ihren Segens-, Bitt- und Versöhnungsgedanken ihren musikalischen Ausdruck fanden, musste und konnte der Kantor deklamieren und psalmodieren, flehen und weinen, durfte er die schluchzenden Unarten eines italienischen Operntenors geradezu kultivieren. Überraschend die Erkenntnis: in den Gesängen ist viel von Milde, Liebe und Hilfe die Rede, nirgends von Verdammnis oder Höllenschrecknissen. An der Truhenorgel gab Tobias Scheetz, der schon bei der „Vocalise“-Aufführung von Schumanns c-Moll-Messe den Orgelpart übernommen hatte, dem Kantor wie den Choristen gelegentliche Unterstützung. Mit einem nach traditionellen Melodien modern-dissonanzenreich arrangierten Gnadengebet fand die Begegnung mit synagogaler Musik ihr Finale. Peter Buske

Peter Buske

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