Kultur: Kafka-Zeit in Potsdam
Jürgen Kiecker zeigt seine Radierungen
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Dunkelheit ist überall und Licht genug ist nirgends. Am Dienstag stellte man in der Urania das Werk eines Mannes vor, dessen Vita und Curriculum mit dem Objekt seiner Darstellung mehr zu tun hat, als es auf den ersten Blick scheint. Natürlich muss man hier die Übel der „Neuen deutschen Rechtschreibung“ vermeiden: Wenn Jürgen Kiecker, ein noch in Pommern geborenes Kriegskind, sich in seinen Radierungen mit den Werken des Schriftstellers Franz Kafka (1883-1924) beschäftigt hat, so war das eine sehr fruchtbare Auseinandersetzung. Würde man „auseinander gesetzt“ sagen, wäre es das glatte Gegenteil. Aber gewisse Affen wissen es halt nicht besser, auch wenn sie der Akademie ihren Bericht abliefern. So sitzt er also da, der menschgewordene Primat in seinen feingestreiften Hosen, Bein auf Bein gelegt, mit Zylinder, Galoschen und einer riesenklugen Brille, im Format so abgemessen, dass oben und unten, links und rechts wenig Raum bleibt. Ein Schuh schaut sogar aus dem Bildrand heraus. Raffiniert gedacht, was hier bildlich aus Kafkas Erzählung „Bericht an eine Akademie“ geworden ist, aber Kiecker hat ja die Kunst des Radierens auch gründlich erlernt. Und er verstand wohl auch jenes „Kafkaeske“, wonach Schwarz auch schwarz und weiß auch Weiß sei. Also kaum Farbe dazwischen, nur sehr viel Spannung und Grausen und Lachen.
Diese Radierungen machen rasch deutlich, wie grafisch der Prager Kafka sein Werk erdachte, welch große Rolle der Raum darin spielt. Man sieht es „Auf der Galerie“ oder beim „Jäger Gracchus“, wo der Renaissance entliehene Rundbögen erst den weitläufiger Hafen mit Segelboot-Ankunft umrahmen. Mit welcher Freiheit Jürgen Kiecker die Perspektive beherrscht, kann man an Kompositionen wie „Vor dem Gesetz“ oder beim „Kübelreiter“ studieren: Weit offene Türen, Riesen gegen Zwerge im Zwie- und Gegenlicht. Dazu weite Plätze, hochfliegende Städte, tiefliegende Gassen der Winzigkeit. Immer wieder der Drang, die Raumtiefen zu erzwingen, bis ins Unendliche fast, wo sich ja Parallelen angeblich treffen. Am Eingang zu den Ausstellungsräumen im Hinterhaus begrüßt das Porträt von Franz Kafka den Gast, man findet es als „Kopfmotiv“ auf vielen Radierungen wieder. Eine Montage mit vielen Augen, wieder Schwarz-Weiß. „Traum“ lässt eine fremde Hand den Namen „Franz K“ auf seinen Grabstein schreiben. Kieckers Bildlösungen wollen ihm nahekommen, nahe sein, dazu findet er verblüffende Lösungen, bei „Kinder auf der Landstraße“ etwa, leicht niederländisch beeinflusst. Erstaunlich filmisch geht es beim „Brudermord“ zu, hier projiziert ein Kameramann sein Bilderpuzzle extern in die Radierebene hinein.
Jürgen Kiecker hat sich mit dem Prager sehr gründlich auseinandergesetzt. Viele der benannten Texte scheinen den kafkaesken Punkt im Grafischen zu treffen. Nur wenige schießen vorbei. Kein Wunder, bei so viel Gemeinsamkeit: Der in Bernau lebende Pensionär arbeitete nach dem Studium von VWL und Politik lange und abgesichert im Bundeskartellamt, der begabte Schriftsteller als Versicherungsmann entsprechend. Kunst betrieben beide voller Ernst im „Nebenfach“. Ihre Handschriften sind gar nicht so weit voneinander entfernt, wenigstens dort, wo es um kraftvolles Hell-Dunkel geht. So verwundert es nicht, wenn Kieckers aquarellistische Abstraktionen in ihrem absichtsvollen Hellsein daneben verblassen. Manche leiden gar an ihrer ornamentalen Eitelkeit: Mit ihnen muss man sich tatsächlich auseinander setzen. Sonst aber ist Kafka-Zeit in Potsdam! Toll! Gerold Paul
Noch bis zum 20. März in der Urania, Gutenbergstraße 71/72, montags, dienstags und donnerstags, 9 bis 18 Uhr und mittwochs 9 bis 13 Uhr
Gerold Paul
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