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„Hier vegetiert man/Solange, Bis man vergeht!“ So verarbeitete Helmut Wilke seine Hafterfahrungen in Gedichten. Über einen Monat verbrachte er im Gefängnis Leistikowstraße. Hier eine der lichtlosen Kellerzellen.

© Bernd Settnik dpa/lbn

Kultur: „Kannst du dich denn erinnern?“

Die Potsdamer Schriftstellerin Lonny Neumann über das Verschwinden eines Menschen

Stand:

Als am Mittwoch die neue Dauerausstellung in der Gedenk- und Begegnungsstätte Leistikowstraße eröffnet wurde, fiel auch der Name Helmut Wilke. Der Potsdamer war im März 1952 in Frankfurt/Oder verhaftet und nach seiner Verurteilung in das Gefängnis Potsdam-Leistikowstraße verlegt worden. Die Potsdamer Schriftstellerin Lonny Neumann studierte 1952 zusammen mit Helmut Wilke am Institut für Lehrerbildung in Frankfurt/Oder und erlebte dessen Verhaftung und Verschwinden. In ihrem unveröffentlichten Roman „Jenseits der Gleise“, von dem wir hier einen Auszug abdrucken, hat Lonny Neumann dieses Verschwinden und das Schweigen darüber verarbeitet.

Jeden Donnerstag Stalin! Kinoabend im Institut für Lehrerbildung. Außerdem hatten sie ihn neulich wieder in ein Präsidium gewählt. Alle hatten zustimmend die Hand gehoben und danach so laut geklatscht, dass er es hätte in seinem fernen Kreml hören können.

Im März lag noch Schnee auf den Wiesen an der Oder, als Helmut und Ursula an einem Montagmorgen fehlten. Mutmaßungen über ihre Freundschaft, womöglich Liebe huschten durch den Raum. Ihre strohblonde Kommilitonin mit den breiten Hüften und dem frischen runden Gesicht, fraulicher als die meisten anderen, die noch spack und kindlich wirkten, und Helmut, der hochaufgeschossene Junge? Und niemand von ihnen hatte etwas davon bemerkt?

Als Ursula nach einigen Tagen auftauchte und die Mitstudierenden sie bestürmten, schwieg sie und saß stumm mit geröteten Wangen auf ihrem Platz. Kam der alte Steinbach mit der Nachricht? Aber er hatte ihnen doch, bevor sie zu Beginn des Studiums die Lehrbücher von Jessipow und Gontscharow aufgeschlagen hatten, geraten: „Für jede Stunde ein Lachen“? An jenem Tag sagte er eher beiläufig, bevor es im Stoff weiterging, dass Helmut verhaftet worden war. Wegen Spionageverdachtes. Die jungen Studenten werden es ebenso geglaubt haben – wie vermutlich auch die jungen Dozenten, die, aus dem Krieg mit dem Leben davongekommen, eher Freund als lehrerhaftes Vorbild waren.

Erst später ist die Frage nach seinem Verbleib in Henriettes Diarien aufgetaucht, erst, als sie überhaupt mit diesen Krakelheften anfing, weil ihr die eigene innere Stimme spanisch vorkam und sie sie trotzdem ernst nehmen wollte. ... Gleichzeitig tauchte und taucht nun wieder daneben eine zweite Stimme auf und mischte sich ein: Es schien die von Banknachbar Bodo zu sein, der ihr als der Klügere erschien: „Wozu die alten Geschichten?“

Sie gewöhnten sich damals daran, dass ein Platz in ihrer Mitte leer blieb. Es gelang so nachdrücklich, dass Henriette nicht weiß, ob es diesen vermeintlich von ihr beobachteten Augenblick eines vertrauten Gespräches zwischen Ursula und Steinbach während einer Pause am Fenster wirklich gegeben hat. Sie meint sich zu erinnern, wie Ursula weinte und nickte und die Tränen fortwischte. Aber sie ging weiter mit ihnen sonntags an den Fluss mit der Kirche auf der anderen Seite der Stadt, in der es vormittags Gottesdienst, nachmittags Chorsingen und abends Tanz gab. Je nachdem, woher der Wind kam, trug er Melodiefetzen zu ihnen herüber. Dort war Polen.

Ein halbes Jahrhundert später träumte Henriette:

Helmut trägt schon den Begräbnisanzug. Nur der Schlips hängt noch lose um den Hals. Ich treffe ihn im Wartesaal eines unbekannten Ortes, als ich unterwegs zu ihm bin. Seine Züge mischen sich mit denen eines früher Gestorbenen. Vergeblich strecke ich ihm die Hand entgegen. Eine unsichtbare Sperre ist zwischen Helmut und mir, ein Strom, den ich noch nicht kenne. Ich sehe, wie er die Lippen bewegt, aber ich verstehe ihn nicht. Dann verschwindet er, und ich weiß im Traum: So groß wird Helmut nie mehr sein.

Deutlich erkannte ich noch einmal die graue Weste unter dem Anzug. Er trug sie, als er im Seminarraum damals vor uns saß, bevor er verschwand, fast ein Menschenleben her. Wohin? Wir wussten es nicht. Da war ein Verdacht, der uns von ihm trennte.

Niemand von uns hat nach ihm gefragt.

Jetzt fährt sein Zug vor meinem.

Ich habe ihn im Traum nicht gefragt, was ich ihn auch im Leben nicht hatte fragen können. Jahrzehnte gab es eine getrennte Wirklichkeit, um nicht das Wort Wahrheit zu benutzen.

„Wir müssten sprechen“, so hatte er nach der Grenzöffnung in einem Brief an Bodo, dessen Namen er erinnerte, gebeten.

„Kannst du dich denn erinnern?“ fragte Bodo, als er damit zu Henriette kam. Der Professor und seine abtrünnig gewordene Banknachbarin sahen sich nur noch selten. Beschwörend hob er die Hände: „Bei uns soll jemand verschwunden sein: Ich müsste mich doch erinnern.“ Er klagte: „Es ist so lange her.“

Henriette sah, wie Bodo litt, aber sie drängte: „Wir wollen ihn einladen.“

An den Augen erkannte sie ihn, als er neben der Gattin mit schwingendem Hut schwerfällig auf sie beide zukam. Wie die Schutzgöttin Hammonia schritt die Frau neben ihm her. Aber sie kamen ja nicht vom Meer herüber, sondern aus einer kleineren Landschaft, der Heide, in der Helmut Lehrer geworden war. Statt der märkischen nun die Lüneburger Heide, hatte er lakonisch in seinem Antwortbrief geschrieben.

Vier Jahre lang hatte man ihn damals gefangen gehalten, verurteilt zu zwanzig, während seine Kommilitonen arbeiteten, sich verliebten, heirateten. Jeden von ihnen konnte sein Verdacht treffen.

Nicht um Schuldzuweisungen gehe es jetzt, schrieb er, als er um die Begegnung geworben hatte und darum, miteinander zu sprechen. Aber seine Frau – es schien, als könne sie die Welt erklären – berichtete von den nächtelangen Verhören und dem möglichen Verrat durch seine Freundin. Sie sprach aus, was Helmut noch verwehrt war, zu sagen und Henriette, danach zu fragen. In einem als Brotauto getarnten Gefährt war er in das Gefängnis in der Leistikowstraße gebracht worden.

Er wollte es sehen, und Henriette ging diesen Weg mit ihm. Hier waren jene Texte entstanden, die er Gedichte nannte, in denen er den ihn rettenden Gottesglauben bekannte.

Später saß Henriette im Konzert zwischen beiden und sah, wie sich ein Schleier über Helmuts Züge legte. Das gegenwärtige Gesicht mit der markanten Falte an der Nasenwurzel wurde überlagert von dem verhärmten Jungengesicht mit dem bitteren Zug in den Mundwinkeln, das sie vor dem Konzert auf einem der Fotos, die nach seinem Verschwinden entstanden waren, gesehen hatte. Für einen Augenblick tauchte dahinter das andere auf, das sie einst gekannt hatte: jungenhaft, ein wenig nachdenklich, fast noch das eines Kindes, während der Freund tatsächlich fern und fremd neben ihr in der festlichen Menge saß, vielleicht zu spät für ihn, die andere Wirklichkeit zu fassen.

Nun ist Helmut tot. Vor seinem letzten Besuch in Potsdam – dieses Mal würden sie leichter sprechen können – stieg er die Kellertreppe hinunter, um Wein für seinen nächsten Besuch bei uns, zu holen. Und plötzlich nur noch der letzte Lebenslaut – als Schmerzenslaut, übertönt vom Geräusch des Sturzes.

Das hättest du sein können!, durchfuhr es Henriette bei dieser Nachricht zum ersten Mal. Niemals vorher, nicht einmal als er ihr im Leibe saß, hatte sie geglaubt, dass der Tod sie schon meine.

Gemeinsam waren sie zum Begräbnis gefahren: Bodo und Hella, seine Frau und Henriette.

Sie warf drei Hände voll Sand auf Helmuts Urne: „Du hast überwunden. Manchmal dachte ich, ich auch, aber ich lebe. Das Glück, überlebt zu haben, verpflichtet, auch, wenn alle sagen: Du bist zu gar nichts verpflichtet.“

„Jetzt ist aber genug“, sagte Hella und holte den Korb, in dem sie ein Picknick für die Rückfahrt mitgenommen hatte, aus dem Auto: „Zu gar nichts bist du verpflichtet. Und wozu die alten Geschichten? Du kannst nicht mit den Toten reden und niemanden lebendig machen und nicht dein schlechtes Gewissen beruhigen, weil wir mit fliegenden Fahnen und so gottlos nach dem Krieg... Es war die Zeit.“

„Und wir waren jung“, fügte Bodo hinzu.

Und noch einmal: „Sei froh, dass alles vorbei ist und du erst recht, dass du davongekommen bist!“

Es war dunkel, als wir nach Hause kamen, und Mond und Sterne glänzten wie an allen Tagen.

Helmuts Freundin, als sie vom Tode hörte, schwieg am Telefon und fügte kleinlaut hinzu: Es gebe etwas, worüber sie mit Helmut hätte sprechen wollen – später. Unser alter Lehrer habe sie damals zur Seite genommen und mit ihr gesprochen. Wenn sie Lehrerin werden wolle, dürfe sie nicht zeigen, dass sie traurig sei und womöglich weinen. „Ich habe mich daran gehalten. So war die Zeit.“

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