
© Marc Domage
Kultur: Karneval der gebrochenen Identitäten
Zum ersten und letzten Mal war Alain Buffards Dreigroschen-Musical in Deutschland zu sehen
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Es war ein perfektes Diorama: Die Bühne des Hans Otto Theaters wurde am Samstagabend zu einem optisch hinreißenden Schaukasten. Wie ein Blatt Papier, das langsam zu Boden segelt, war die schiefe weiße Ebene gewölbt, mehr Bühnenbild (Nadia Lauro) brauchten Alain Buffards sechs Tänzer und die beiden Musiker nicht, die hier im Rahmen der Tanztage „Baron Samedi“ eine zeitgenössische Interpretation von Brechts Dreigroschenoper aufs Parkett legten. Vor dieser Projektionsfläche entwickelten die Kostüme der Tänzer – rote Kniestrümpfe zum beigefarbenen Tropen-Jumpsuit, schmal geschnittene Anzüge samt Hosenträgern – immer neue grafische Muster, modifiziert und neu geordnet von den Bewegungen der Protagonisten.
Tänzer alleine waren sie nicht, alles begann mit Dorothée Munyanezas den ganzen Saal komplett ausfüllenden Jazzgesang – in völliger Dunkelheit. Kurt Weills Musik war für Buffard der Bezugsrahmen für seine Erzählung, in der er Versatzstücke der Dreigroschenoper mit einer Art Meditation über soziale Identitäten verknüpft. Was herauskommt, ist ein bizarr-schönes, aber wenig stringentes Musical, das auf der Suche nach den fragmentierten Identitäten der postkolonialen Welt leider seine eigene Identität nicht ganz findet.
Der Samstag war zugleich auch ein tieftrauriger Abend, denn Alain Buffard, einer der einflussreichsten französischen Choreografen der vergangenen Jahre, ist im Dezember 2013 überraschend gestorben. Sein „Baron Samedi“ wurde im Hans Otto Theater zum ersten Mal in Deutschland und zugleich zum letzten Mal überhaupt gezeigt, wie tief die Trauer über seinen viel zu frühen Tod noch sitzt, war den Tänzern am Ende deutlich anzusehen.
Ihre Erfahrungen und ihre Herkunft – sie stammen aus Ruanda, Elfenbeinküste, Südafrika, Brasilien, den USA und Frankreich – machte Buffard zum Teil der Geschichte, Teil dieser karnevalesken Welt, in deren Zentrum er den haitianischen Voodoo-Geist „Baron Samedi“ (David Thomson) setzt. Mit seinem dunkelblauen Militärmantel mit den Goldknöpfen über dem nackten Oberkörper, seinem Zylinder und seiner majestätischen Haltung ist er alles zugleich: Brechts Peachum, der das Prekariat ausbeutet, karibischer Piratenbaron und magischer Voodoo-Geist. Aber in diesem Karneval der Kulturen ist nichts, wie es scheint, ständig zerfallen die Identitäten der Sänger und Tänzer, aus Männern werden Huren, aus Frauen Zuhälter und aus den Sklaven selbstbewusste Hip-Hopper, auch der Sound der Weimarer Republik, mit Kontrabass und E-Gitarre wunderbar umgesetzt von Sarah Murcia und Seb Martel, schwappt immer mal wieder in die Gegenwart. „I need a dollar“, rappt eine von ihnen Aloe Blaccs Hit von 2011 – bis Samedi sie anherrscht: „Hip-Hop is dead.“
Die finstere Geschichte von Kolonisierung, Sklaverei und bis heute bestehenden Rassismen durchstreift Buffard mit eleganten, kleinen Gesten: etwa, wenn die schwarzen Tänzer sich weiße Kapuzen über die Köpfe ziehen. Trotz der aufgemalten Tiergesichter denkt man da unweigerlich an den Klu-Klux-Klan, aber – quasi im Umkehrschluss – auch an die diffamierenden Minstrel-Shows, bei denen Weiße stereotype Schwarze darstellten. Unter dem Einfluss der Masken bewegen sich die Tänzer – eben noch selbstbewusst und sexuell provokativ agierend – seltsam grotesk, mit unterdrückter Kraft.
Diese Unterdrückung ist bei Buffard nicht nur eine historische, auch heutige Migrationserfahrungen spielen mit hinein: „Ich wurde in Deutschland geboren“, erzählt Dorothée Munyaneza, „als ich zwei Jahre alt war, gingen wir zurück nach Ruanda. Auf den Straßen waren nur Hunde. Leichen. Geier.“ Ein anderer erzählt von seiner Zeit als Kindersoldat. „Ich wollte nur, dass es zu Ende geht.“ Heute lebt er in Europa – und seine größte Sorge sind seine Falten. Für die aber hat er eine Lösung: Botox. So ändern sich die Identitäten auch im Laufe eines Lebens.
Der schleppende Blues, den Martel und Murcia dem Mackie-Messer-Song verleihen, bringt dann das Problem der Inszenierung zum Vorschein. Die Bewegungen der Tänzer sind pointiert, routiniert – besonders David Thomson tanzt mit der Leichtigkeit und Beschwingtheit eines Vogels –, wirken aber, vielleicht durch die nur lose bis kaum verknüpften Handlungsstränge, unmotiviert, fast skizzenhaft. Oft stehen die Tänzer auch einfach herum, sprechen miteinander, ohne sich wirklich zu verstehen und wechseln dann, wie aus Frustration über die Vereinzelung, wieder ihr Wesen. Das ist natürlich die Essenz vieler postmoderner Existenzen – berührt in dieser Inszenierung aber nicht wirklich. Besonders nicht im Vergleich zu Lia Rodrigues’ Stück „Pindorama“, das die zwei Abende zuvor auf den Tanztagen lief und das mit einem ähnlichen Thema die Zuschauer mit existenzieller Wucht packte.
Die Potsdamer Tanztage finden noch bis zum 1. Juni in der „fabrik“, Schiffbauergasse 10, statt. Das Programm finden Sie unter www.fabrikpotsdam.de
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