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Kultur: Kein Lösen mathematischer Gleichungen Neue CD mit der Kammerakademie

Ist es plausibel und legitim, überlieferte Stücke als Modelliermasse für Neues zu benutzen? Warum sollte, ließe sich weiter fragen, was für Johann Sebastian Bach gang und gäbe war, nämlich Werke oder Teile davon im sogenannten Parodieverfahren mehrfach zu verwerten, für Nachfahren nicht möglich sein?

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Ist es plausibel und legitim, überlieferte Stücke als Modelliermasse für Neues zu benutzen? Warum sollte, ließe sich weiter fragen, was für Johann Sebastian Bach gang und gäbe war, nämlich Werke oder Teile davon im sogenannten Parodieverfahren mehrfach zu verwerten, für Nachfahren nicht möglich sein?! Sergio Azzolini, Fagottist und künstlerischer Ex-Chef der Kammerakademie Potsdam, führt es gemeinsam mit einigen ihrer Mitglieder auf der CD-Neuerscheinung „Johann Sebastian Bach – rediscovered Wind Concertos“, allesamt als Welt-Ersteinspielungen deklariert, sehr eindrucksvoll vor. Die ohne Fehl und Tadel aufgenommene Sony-Silberscheibe erscheint heute im Fachhandel.

Was es auf ihr zu hören gibt? Zu Bläserkonzerten zusammengebastelte Satzteile aus Kantaten und Cembalokonzerten, die Bach eigenhändig aus frühen Werken seiner Köthener Zeit bearbeitet hat. Er habe sie „nach Zusammengehörigkeitsgefühl“, wie Azzolini im Booklet schreibt, zusammengesucht und transponiert. So wie sie hier erklingen, gibt es die Concerti nach Bachs Absicht (und Schmieders Bach-Werke-Verzeichnis) überhaupt nicht. Sie sind vielmehr willkommenes Spielmaterial für exzellente Musiker – nicht mehr und nicht weniger. Bach-Gurus dürften die Nase rümpfen.

Der zweifellos Interesse erheischende Streifzug durch Bachs virtuelle Klangwelten beginnt mit dem Konzert für zwei Oboen (Giovanni de Angeli, Jan Böttcher), Fagott (Sergio Azzolini) und Basso continuo. Das besteht aus Cembalo (Davide Pozzi), Theorbe (Diego Cantalupi) und Kontrabass (Tobias Lampelzammer) und sorgt für staunenswerte klangliche Vielfalt. Lebendig, aber nicht in überzogenen Tempi wird mit viel instrumentaler Wärme, Ausdruckskraft und rhetorischen Finessen musiziert. Natürlich geht es akzentuiert zu, jedoch ohne die Absicht, eine klangmathematische Gleichung lösen zu wollen. Ein Hauch seelenerbaulicher romantischer Intimität ist nicht nur dieser Wiedergabe beigegeben. Auf eine ratiogeprägte Erkenntnisgewinnung wartet man dagegen über fünfzig Minuten lang vergebens. Sehr originell: zwei Adagioversionen zum Aussuchen und Zappen zwischen Track II und IV, wobei letzterer mehr „historisierender“, also straffer und herber, mit deutlicher hervortretenden Soloinstrumenten erklingt. Diese sind in der ersten Version deutlicher in den übrigen Apparat eingebunden, klingen lieblicher und kantabler als in der zweiten.

Mit geradezu südländischem Temperament und fern der strengen Linienführung, wie sie der Hörer oftmals mit Bach verbindet, werden die Ecksätze des fiktiven „Fagottkonzert“ musiziert. Im Siciliano-Mittelsatz brilliert Azzolini mit vollmundig und ausdrucksstark geblasener Innigkeit. Die Form der Dacapo-Arie (aus zwei Kantaten entnommen) findet Entsprechung durch die Wiederholung ihrer beiden Teile. Ein von Bach goutiertes Concerto-Prinzip? Überaus innigen Instrumentalgesang zeichnet die Wiedergabe des „Oboenkonzerts“ aus, dem Giovanni de Angeli mit weicher Tongebung eine intime, der menschlichen Stimme sehr nahe kommende Wirkung erzeugt, die sich im Adagio durch die Continuo-Theorbe verstärkt. In solcher Funktion tritt das Fagott im einzigen bachoriginalen, anderthalbminütigen Instrumentalsatz F-Dur BWV 1040 für Violine (Yuki Kasai), Oboe und B.c. in Erscheinung. Hörfazit: für Antipuristen legitimieren sich die Einspielungen auf jeden Fall.Peter Buske

Johann Sebastian Bach, „Rediscovered Wind Concertos“, Solisten und Kammerakademie Potsdam unter der Leitung von Sergio Azzolini, Sony Music.

Peter Buske

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