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Kultur: Kirschen wie ein Mädchenmund

Ausgewählte Exponate von „Mark und Metropole“ im Kutschstall (4) / Von Andreas Bernhardt

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Über Jahrhunderte wurde Berlin wie jede andere Stadt durch die Bauern der Umgebung mit Lebensmitteln versorgt. Mit dem funktionierenden Eisenbahnbetrieb bei gleichzeitiger Entwicklung Berlins zur Metropole änderte sich dies. Lagergemüse wie Kartoffeln und Rüben konnten in Riesenmengen von weiter Ferne herbeitransportiert werden. Auch das Vieh wurde nicht mehr in die Stadt „getrieben“, sondern mit der Bahn zum Vieh- und Schlachthof gefahren. Was die Bahn damals noch nicht leisten konnte, war der klimatisierte Transport. Darum blieb Brandenburg recht exklusiv mit Berlin verbunden durch die Lieferung Transport-empfindlicher Lebensmittel wie Milch, Blattgemüse und Tafelobst.

Zu Berlins Stadtbild gehörten bis in die 1930er-Jahre die Kähne der Werderaner Obstbauern, die an der Friedrichsbrücke ihre Ware feilboten und damit die einzigen Landwirte Brandenburgs waren, die als solche in der Hauptstadt zu erkennen waren. Entsprechende Verkaufsszenen wurden in vielen Grafiken und unzähligen Fotos überliefert. Darstellungen aus ihrer Heimat Werder sind aber selten, so wie dieses großformatige Aquarell, mit dem Julius Jacob (1842-1929) die „Werderschen“ mit Kiepen beladen auf dem Weg zum Anleger zeigte.

Die Werderaner Obstbauern hatten sich genossenschaftlich mit einem Schlepper-Schiff organisiert, das die zahlreichen Kähne Havel- und Spree-aufwärts ins Berliner Zentrum zog. Dort hatten sie im 18. Jahrhundert vom König Sonderrechte zum steuerfreien Verkauf erhalten. Zur Eigenversorgung auf diesen Kurzreisen hatten sie ein kastenförmiges Behältnis entwickelt, das sie Berlin-Koffer nannten.

Schon im Mittelalter war das Havelland ein bekanntes Weinanbaugebiet. Als im 18. Jahrhunderts während einiger extrem kalter Winter die Mehrzahl der brandenburgischen Rebstöcke abfror, pflanzte man sicherheitshalber Steinobst nach. Dieses wurde nicht nur als Tafelobst angeboten, sondern verkeltert, da Obst nicht lange gelagert werden konnte und Säfte seinerzeit nicht haltbar zu machen waren.

Im 19. Jahrhundert entstand daraus das Obstanbaugebiet, das nur noch einen kleinen Teil der Ernte verkelterte und das Obst sonst in Berlin als Tafelobst vermarktete. Als neues Transportbehältnis für die empfindliche Qualitätsware soll in Werder der Spankorb erfunden worden sein, wofür allerdings der wissenschaftliche Nachweis noch aussteht.

Die Werderaner waren so klug, ihr positives Image zur Vermarktung ihrer Stadt zu verwenden. Werder war seit 1848 mit einem Haltepunkt an die Berlin-Magdeburger Eisenbahn angeschlossen. Während für den Obsttransport der Wasserweg der kostengünstigste war, war die Eisenbahn für den Personenverkehr der schnellste.

1879 boten die Werderaner erstmals die Feier des Baumblütenfestes an. Es handelte sich um eine zehntägige gastronomische Veranstaltung, auf der mit der Eisenbahn angereiste Berliner bei frühlingshaften Temperaturen im Freien besonders Obstwein – den so genannten Rauscher – verkosteten. Neben dem wirtschaftlichen Erfolg vor Ort diente das Fest auch als Werbung für die in Berlin ganzjährig erhältlichen Produkte. Das heute als eines der größten Volksfeste Deutschlands geltende Baumblütenfest kann im nächsten Jahr auf eine 130jährige Tradition der lebendigen Verbindung zwischen Mark und Metropole zurückblicken.

Andreas Bernhardt ist Kurator der Sonderausstellung „Mark und Metropole“.

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