Kultur: Klagegesang der Menschheit
Collegium musicum mit Potsdam-Premiere
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„Noch etwas schleierhafter, als ob ein leichter Nebel vom Boden aufsteigen würde“, wünscht Dirigent Knut Andreas den Klang der Violinen. Bei der Generalprobe zum Symphoniekonzert des Collegium musicum Potsdam wird an manchen Details noch gefeilt. In der gut besuchten Babelsberger Friedenskirche erhalten die Zuhörer einen kleinen Einblick in die Werkstatt des Orchesters. Auch über die Kompositionen des Abends erfährt man einiges vom rührigen Dirigenten, der sich abwechselnd an die Musiker und die Zuhörer wendet. Zunächst erklingen alle drei Themen aus Franz Schuberts Sinfonie Nr. 7. Angefangen bei der populären Hauptmelodie über das sehnlich-flehende zweite Motiv in den Holzbläsern bis hin zur geheimnisvollen Eröffnung in den dunklen Streichern. Schließlich erklingt der erste Satz im Ganzen, mit nahezu beethovenscher Dynamik. Nachdem die Violinen ihren Part hinreichend schleierhaft wiederholt haben, folgt der zweiten Satz der berühmten „Unvollendeten“ Sinfonie. Immer wieder werden die sehnsuchtsvollen an Beethovens Pastorale erinnernden Klangwelten von forsch auftrumpfenden Passagen unterbrochen, bis der Satz im zarten Pianissimo wie ein Sonnenuntergang vergeht.
Hauptwerk des Abends war die dritte Sinfonie von Henryk Mikolaj Górecki, die durch den Tod des polnischen Komponisten unerwartete Aktualität erhalten hatte. Doch schon allein aus musikalischen Gründen besitzt diese „Sinfonie der Klagelieder“ absoluten Ausnahmerang. Glücklicherweise konnte der Komponist noch erleben, wie sein in den 70er Jahren geschriebenes Werk die Hitlisten stürmte. Im Jahr 1992 lösten eine englische Aufnahme der Sinfonie und ein darauf basierender Hit mit dem Titel „Górecki“ weltweite Begeisterung aus. Dabei handelt es sich um ein musikalisches Schwergewicht in radikal tragischer Gestalt.
Die Sinfonie der Klagelieder erstmals in Potsdam aufgeführt zu haben, dieses Verdienst gebührt dem Collegium musicum. Ein gewisses Risiko war damit verbunden, denn außer einer sehr großen Orchesterbesetzung besitzt das Werk eine anspruchsvolle Sopranpartie in polnischer Sprache. Diesen Part übernahm die Potsdamer Sängerin Gabriele Näther mit bemerkenswerter Präsenz, Wohlklang und Artikulationskraft. An die geforderte Besetzung langte man zwar nicht heran, verzichtete aber nicht auf Harfe und Klavier. Selbst einen Kontrafagottisten gab es, anstelle von zweien.
Die drei Sätze der Sinfonie der Klagelieder basieren auf Texten aus unterschiedlichen historischen Kontexten. Stets steht die lebendige Urbeziehung zwischen Mutter und Kind im Zentrum. Einer polnischen Marienklage aus dem 15. Jahrhundert folgt das Gebet eines Mädchens an die Mutter, das an einer Zellenwand des Gestapo-Hauptquartiers in Zakopane gefunden wurde. Im Finalsatz erklingt ein Volkslied, in dem eine Mutter um ihren Sohn trauert, der im Krieg verschollen ist. Mit ebenso schlichten wie dicht gewebten Klangfeldern aus Kirchentonarten und minimalistischen Mustern zieht Góreckis Musik den Hörer in den Bann. Mit einem Motiv im Stil einer Passacaglia eröffnen die Bässe den ersten Satz, der mit seinen meditativen, stets unterschiedlichen Wiederholungen wie Meereswellen erscheinen. In der tief empfundenen Trauer scheinen helle Klänge immer wieder wie Hoffnungsstrahlen hindurch. Die gesamte Sinfonie, die ohne Pause durchgespielt wurde, ist ein Klagegesang der Menschheit ohne Gleichen und ein hohes musikalisches Kunstwerk, das wohl keinen Zuhörer unbewegt lässt, wie sich zumindest an diesem Abend in der Friedrichskirche zeigte. Babette Kaiserkern
Babette Kaiserkern
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