Von Antje Strubel: Kleider machen Leute, nicht den Tanz Klamottige Eröffnung der Internationalen Tanztage
Ein blühender entwurzelter Mandelbaum ist generell wie ein halber Schuh, auf dem man röhren kann wie eine Maske rennt. So in etwa müsste man zusammenfassen, was die französischen Tänzer der Gruppe Mi-Octobre am Mittwochabend in der fabrik zur Eröffnung der 19.
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Ein blühender entwurzelter Mandelbaum ist generell wie ein halber Schuh, auf dem man röhren kann wie eine Maske rennt. So in etwa müsste man zusammenfassen, was die französischen Tänzer der Gruppe Mi-Octobre am Mittwochabend in der fabrik zur Eröffnung der 19. Potsdamer Tanztage vorführten: Drei Frauen und drei Männer vermummten sich, dann ging das Bühnenlicht an. Die sechs Darsteller wurschtelten sich einen Abend lang durch ihre dicken botanischen und animalischen Trachten, in der Mitte drehte sich der entwurzelte Baum, während Baustellenlärm, Rodungsgeräusche und Tiergeschrei aus den Lautsprechern kam. Später fielen die Baumklamotten von den Tänzern ab. Sie trugen nun auf die Brust oder den Rücken gepappte halbe Anzüge, bliesen in Muscheln, Hörner und Vogelpfeifen, führten Federboas, nackte Hintern, fleischfarbene BHs mit Kunsthaarbüscheln und immer wieder mittig aufgeschnittene Kleider, Hemden oder Sakkos vor, in denen sie einander jagten, liebten oder die sie sich vom Leibe rissen und so auf den Unterschied von Sein und Schein der Menschen und aller Dinge hinzuweisen versuchten. Es ging um das Thema Waldsterben und um den Menschen in der Krise, und der Choreograf Serge Ricci hatte dazu jede Menge Einfälle, die er aufgriff und fallenließ wie die ermüdende Menge an Klamotten.
„Wir Nordeuropäer sind irgendwann alle aus dem dunklen Wald gekommen“, schreibt die schwedische Schriftstellerin Kerstin Ekmann in ihrem Buch zum Wald und erinnert an das, was Serge Ricci an diesem Abend ästhetisch nicht in den Griff bekommt: zwischen der Krise des Menschen und der des Waldes besteht ein Zusammenhang. Wann immer in der Geschichte der Menschheit große Veränderungen geschahen, veränderte sich der Blick auf den Wald und der Umgang mit der Natur. Wie der erste, ursprüngliche Wald einmal ausgesehen hat, lässt sich nicht mehr sagen. Die Menschen haben ihn von Anfang an gestaltet, verändert, zerstört. Er ist Metapher und Ressource. Ob als gefährlicher Zedernwald im Gilgamesch-Epos, als sagenhafter Wald des mittelalterlichen Ritterliedes, als paradiesischer Wald in Dantes Göttlicher Komödie, ob als unheimlicher Wald in Goethes Erlkönig oder als verzauberter Wald in Shakespeares „Sommernachtstraum“; er ist dem Menschen immer schon Spiegel seiner unbewussten Ängste und Sehnsüchte gewesen, dient als Quelle der Fantasie oder stellt das Unfaßbare dar, das Andere, das fremde Gegenüber, an dessen Grenze sich die Menschen ihrer selbst bewusst werden oder den Verstand verlieren. Die Psychologie macht den Wald zum Symbol innerer Verwandlungen; sich darin zu verlaufen, bedeutet keine Lebensgefahr, sondern die Gefahr, zum Außenseiter der Gesellschaft zu werden.
So ist der Einfall Serge Riccis, die Tänzer wie Mumien, Idioten und Senile über die Bühne zu schicken, so folgerichtig wie eintönig; einen fast zweistündigen Tanzabend trägt das Vortragen und Abtragen von Kleidern nicht. Selten ergeben die einzelnen Bewegungsabläufe der Tänzer ein Bild, ein dramaturgisches Konzept scheint völlig zu fehlen, die Auswahl an Requisiten ist beliebig. Die sechs Tänzer bilden nur ein textiles Durcheinander um einen kreisenden Baum. Und da im zweiten Teil das Treiben kindischer, die Einfälle alberner, die Kostümierungen peinlicher und die Schuhe, Schürzen und Schals immer mehr zum Fetisch werden, wird die Klamottenschau bald zur Klamotte.
Die Erde hat 400 Millionen Jahre gebraucht, um Wälder hervorzubringen, der Mensch braucht weitaus weniger lange, um sie zu vernichten. Der Titel des Stücks „Des Arbres sur la Banquise“, was soviel wie „Die Bäume im Packeis“ heißt, verweist auf die durch das Schmelzen der Pole bedrohte Fauna des Permafrost. Das Stück zeigt vor allem die Schwierigkeit, Naturphänomene künstlerisch zu fassen, und erinnert daran, wie gut es wäre, mal wieder in einen richtigen Wald zu gehen.
Antje Strubel
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