Kultur: Kleines Haus am Wald
Günter de Bruyn las in Bibliothek aus „Abseits“
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Günter de Bruyn las in Bibliothek aus „Abseits“ Wo die Spree auf ihrem Weg nach Berlin das Beeskower Plateau berührt, liegt der winzige Flecken Görsdorf. Hier gibt es weder fruchtbare Äcker noch Industrie, auch „Denkwürdigkeiten“ fehlen völlig. Noch nie hat sich jemand die Mühe gemacht, das 190-Seelendorf dem Reich der Literatur zuzuschlagen. Seit 1967 aber wohnt Günter de Bruyn dort, in einem kleinen Haus am Waldesrand, Entstehungsort vieler seiner Bücher zugleich. Fast vierzig Jahre habe es gebraucht, bis er den Görsdorfern mit der Neuerscheinung „Abseits. Liebeserklärungen an eine Landschaft“ (S. Fischer) seine Aufwartung machen konnte, sagte er am Mittwoch bei einer gutbesuchten Präsentation in der Stadt- und Landesbibliothek, wo man auch andere seiner Werke, „Unter den Linden“ oder „Preußens Luise“, zum Kauf anbot. „Mangel an Menschen, Reizen und Geräuschen“ veranlassten den gebürtigen Berliner, das kleine, von Vandalismus und Zerfall heimgesuchte Anwesen der Familie Barth zu beziehen. Doch glaubhafter als der Satz, sein Zuhause sei stets da, wo Schreibtisch und seine Bibliothek Platz fänden, ist die wechselhafte Liebe des Autors zu Landschaft und Leuten, und so beginnt auch das erste Kapitel mit einer etwas umständlichen Liebeserklärung an „unsere Gegend“ zwischen Beeskow und Storkow, deren Reiz gerade in dem bestehe, was ihr eigentlich fehle. Ein „Abseits“, wie de Bruyn es seit langem bevorzugt. Die Lesung hob drei Schwerpunkte heraus. Neben den ausführlichen Sentenzen des Eingangskapitels über die Liebe als solche trug der Autor den bewegenden Abschnitt über seine „Vormieterschaft“ vor, wie er sie aus den achtlos auf dem Dachboden zerstreuten Briefen und Fotos rekonstruierte. Charlotte und Adolf Bahr hatten das bescheidene Haus nebst einiger Morgen Boden einstmals erworben, 1918 wurde ihr Sohn Rudi geboren, schwerfällig im Denken und bis zuletzt in Liebesdingen unerfahren. Acht lange Jahre diente er Hitler, seit 1944 galt er als im Osten vermisst. Aber die inzwischen verwitwete Mutter wartete bis an ihr Lebensende treu auf die Heimkehr des einzigen Sohnes, ja sie sparte viel Geld an, um ihm und sich selbst einen gemeinsamen Neubeginn zu ermöglichen. Kurz nachdem sie 84-jährig starb, bezog der Autor das Anwesen der Häusler. In „Abseits“ zitiert er Briefe, die zwischen verschiedenen Mädchen von der „Heimatfront“ und Rudi, dem „unbekannten Soldaten“, gewechselt wurden. Auch solche von Charlotte, als sie vergeblich versuchte, per Annonce eine zweite Ehe einzugehen – dem Sohne zuliebe. Berührend. Das Buch endet mit Betrachtungen zur Gegenwart, welche de Bruyn mit der ihm typischen Präzision in guten Perioden aufschrieb, etwa zum Verfall der Beerdigungskultur, was den bekennenden Christen genauso schmerzt wie der allgemeine Werteverlust, welchen er beim anschließenden Gespräch im Beisein einiger Görsdorfer beklagte: Heute sage nur noch die Polizei, was falsch oder richtig sei, keiner hingegen wisse mehr von Gut und Böse. Auch wenn seine Mitbürger hinsichtlich der kritischen Bemerkungen zu ihrem Friedhof anderer Meinung sind, so zeigten sie dem Autor viel Dankbarkeit für dieses Buch: Einfühlsamer Essay und Liebeserklärung zugleich, geschrieben aus dem freigewählten „Abseits“, im kleinen Haus am Wald, wie es auch eine Volksweise besingt. „Ich bin da zu Hause“.Gerold Paul
Gerold Paul
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