
© Sophie Lindner
Kultur: Knisternd
Eva und Philipp Milner beflügeln im Nikolaisaal
Stand:
Ein junger Mann mit Dreitagebart erhebt sich von seinem gepolsterten Sessel. „Mach die Tür wieder zu!“, wettert er in den Saal, zornig über die verfrühte Aufbruchsstimmung des Publikums. Sein Befehl trifft auf zustimmendes Gelächter. Dann wird es wieder ganz still und das Geschwisterpaar von Hundreds beginnt mit der letzten versprochenen Zugabe. Sanfte Pianomelodien umschmeicheln die zarte, verletzlich scheinende Stimme von Eva Milner. „Little Heart“ haucht sie in ihr Mikrofon. Existenzielle Fragen wie „How can I go on like this?“ schweben durch die Sphären des Nikolaisaals, wo das hanseatische Duo am Mittwochabend erstmalig auftrat. „Ich wäre dafür, dass du einfach so weitermachst“, denkt wahrscheinlich der bärtige Mann, der sich jetzt wieder zufrieden zurücklehnt und in der Musik versinkt. Genauso anmutig und mystisch wie ihre Singstimme wirkt auch die Erscheinung der großen Schwester. In ihrem schulterfreien, schwarzen Einteiler steht sie in den tiefroten Lichtkegeln, sodass man nur den Schatten ihrer schmalen Silhouette erkennen kann.
Songs von ihrem Debütalbum „Hundreds“, das die Band bereits im vergangenen Jahr im Waschhaus vorgestellt hatte, lassen sie nun in der kürzlich erschienenen LP „Variations“ wieder neu aufleben. Dabei handelt es sich um ein Sammelsurium aus Coverversionen und Remixen unter anderem auch mit befreundeten Bands. Mit dem Nikolaisaal haben die Musiker eine besondere Location gefunden. Schon zu Beginn des Abends hatte ihr Vorbandmusiker und Reisefreund Touchy Mob, der auf seiner Loopstation einiges bot, festgestellt, dass dies hier ein krasser Laden und mal keine Kneipe sei. So erlebte das jugendliche Publikum an diesem Abend die heile, drogenfreie Welt des Ohrwurmhits „Happy Virus“ auf eine völlige andere Art. Fünfeckige, geometrische Lichtkörper zeichnen sich auf dem Gesicht von Eva ab. Die beiden Schlagzeuger in den gegenüberliegenden Ecken der Bühne ersetzen mit ihren knisternden, rhythmischen Klängen die einst quirlige Melodie des Synthesizers. Elektronische Klänge erwecken die Vorstellung von kleinen Kieselsteinen, die auf einem harten Untergrund prallen. Automatisch fängt der Kopf an im Takt mit zu wippen. Auf den Treppenstufen bilden sich kleine Tanzgruppen, die sich von der Musik tragen lassen. „We live in happy little boxes“, erklingt Evas Stimme. Philipp Milner haut seine Akkorde in die Tasten. Spezialeffekte, wie eine plötzlich auf der Leinwand erscheinende wachsende Sonne, vorbeiziehende Wolken oder Filmaufnahmen von einem sich umsehenden Augenpaar, prägen sich dem Publikum ein. Nach dem anderthalb stündigen Konzert sitzt der bärtige Mann immer noch gebannt auf seinem Sessel, während der Rest der Zuschauer beflügelt von den experimentellen Klängen des Abends den Saal verlässt. Friederike Haiser
Friederike Haiser
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