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Kultur: Kratzer auf der Seele

Yasmina Ouakidi inszeniert das Jugendstück „Scratch“ von Lutz Hübner im Theater Havarie

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Kratzen tut weh, es verletzt nicht nur die Oberfläche. DJs verzerren beim Scratchen den Ton. Ohrenschmerzend ritzen Kids ihre Zeichen in Fensterscheiben. Auf der Haut hinterlässt es Narben, manchmal auch auf der Seele.

In Lutz Hübners Jugendstück „Scratch“, das am Freitag im Theater Havarie Premiere hat, wird das Kratzen zum Sinnbild für die verletzungsreiche Zeit des Erwachsenwerdens. Regisseurin Yasmina Ouakidi erzählt die Geschichte zweier Jugendlicher, die sich nachts auf einem leergefegten S-Bahnhof am Rande Berlins begegnen. Der letzte Zug ist abgefahren, der erste noch nicht in Sicht. Zeit zum Nachdenken, frei vom Druck, sich sofort entscheiden zu müssen, in welche Richtung die Reise gehen soll. Tamla, Anfang 20 und schon in der Welt herumgereist, will in der Heimat endlich festen Boden unter die Füße bekommen. Der 18-jährige Frank hingegen ist gerade erst aufgebrochen. Aus der Provinz kommend, will er in der Großstadt als DJ sein Glück suchen. Anfangs voller Misstrauen und Aggressionen, bewegen sich die beiden langsam aufeinander zu. Dann aber tritt ein Mann aus dem Nichts, eine imaginäre Person, die sie mit ihren Grenzen konfrontiert, an ihrem Selbstbewusstsein „scratcht“ und sie auf diese Weise ziemlich unsanft herausfordert.

In immer neuer Gestalt wird diese Person Frank und Tamla auf ihren Wegen wieder begegnen. Eine Art Schicksalsfigur, die jedes Mal auftaucht, wenn einer der beiden eine wichtige Entscheidung treffen muss. Mit den Alternativen zu spielen und die Folgen der getroffenen Wahl auszumalen, ohne dass jemand Schaden nimmt, ist für Yasmina Ouakidi der große Vorteil des Theaters. Das Stück sei wie eine Generalprobe fürs richtige Leben, findet sie und hofft, dass junge Zuschauer sich darin wiederfinden. „Viele sind ja in einer ähnlichen Orientierungskrise, in diesem Vakuum zwischen Schule und Beruf, das, je länger es andauert, die innere Not nur vergrößert und aggressiv macht, auch gegen sich selbst.“

Die langjährige Arbeit im Theater Havarie, die Gespräche und Begegnungen mit Jugendlichen in Krisensituationen haben Yasmina Ouakidi verschiedene Arten von Verletzungen erkennen lassen. „Wer nach der Schule keinen Ausbildungs- oder Studienplatz hat, fällt in ein tiefes Loch.“ Nicht zu wissen, wohin man gehört, das Gefühl, nicht gebraucht zu werden all das verstärkt sich noch, wenn der soziale Rückhalt von Eltern und Freunden fehlt, so ihre Erfahrung. Zudem bekämen junge Menschen heute oft suggeriert, dass alles von ihnen allein abhänge. Eine Überforderung statt der so nötigen Unterstützung.

Das Stück, so Yasmina Ouakidi, versucht nicht zu zeigen „wie das Leben richtig geht". Denise Ilktak als Tamla und Sascha Diestelmann als Frank verkörpern ganz normale junge Leute, die etwas versuchen und scheitern, sich wieder aufraffen und erneut losgehen. Dem einen gelingt es besser, dem anderen weniger gut. Der eine geht gestärkt daraus hervor, den anderen wirft es fast aus der Bahn. Auch wenn die Inszenierung dank surrealistischer Verschiebungen beinahe märchenhaft endet, so will sie die Zuschauer doch ernstnehmen und ihnen nichts vorgaukeln.

Im Anschluss an die Vorführung, kann, wie stets im Theater Havarie, über das Gesehene gesprochen werden. Als Theaterpädagogin geht Yasmina Ouakidi gern auch in Schulklassen oder Clubs, um die Jugendlichen anzuregen, das Geschehen auf der Bühne zur eigenen Lebenswirklichkeit in Beziehung zu setzen und sich darüber auszutauschen. Auf diese Weise wird das Theater zum Sozialraum und die Inszenierung zur Hilfe im „Havarie“-Fall. Antje Horn-Conrad

Theater Havarie im T-Werk, Schiffbauergasse, Fr 26.1., 20 Uhr Premiere, Mo 29.1.- Do 1.2., 11 Uhr, ab 13 Jahren

Antje Horn-Conrad

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