Kultur: Kultige Rentnermusik
Schräge Sounds beim finnischen „Humppa-Festival“ im Lindenpark
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Schräge Sounds beim finnischen „Humppa-Festival“ im Lindenpark „Die Finnen sind ein Volk von fünf Millionen durchgeknallten Alkoholikern“, meint Onni Varis, Keyboarder von „Eläkeläiset“ (zu deutsch: Rentner), augenzwinkernd. In einer durchzechten Nacht muss dann wohl vor zehn Jahren die Idee entstanden sein, bekannte Popsongs und Evergreens im abgedrehten Humppa-Sound zu spielen. „Humppa“ erinnert stark an Polka und ist bei finnischen Rentnertreffs äußerst beliebt. Dazu dichten Eläkeläiset finnische Nonsenstexte, die nichts mit dem Original zu tun haben. „Humppaa tai kuole!“ entpuppt sich als „No limits!“, Queens Stadionhymne „We will rock you“ heißt „Lisää Humppaa“ und „Humpparitari“ ist in Wirklichkeit Bo Diddleys „Roadrunner“. Schon als die Finnen in ihrer altbackenen Anzügen die Bühne am Samstagabend im Lindenpark betreten, werden sie vom Publikum wie Megastars hofiert. Sie setzen sich auf Plastikstühle, die hinter Holztischen aufgestellt sind. Kristian Voutilainen wirbelt ein kleines Trommelintro auf seinem Schlagzeug, das wie eine Keksdose klingt. Martti Varis gibt pumpende Basslinien von sich und die Melodiesektion um Lassi Kinnunen am Akkordeon, Petteri Halonen am linken und Onni Varis am rechten Keyboard stimmt mit ein. Das ganze klingt so billig und ätzend, dass es schon wieder Kult ist! Die ersten Reihen verwandeln sich sofort in eine hüpfende Masse aus Jung und Alt. Sie schreien fortwährend nach mehr „Humppa!“, obwohl sie die Texte der komplizierten finnischen Sprache nicht verstehen und lediglich die mitreißenden Refrains mitgröhlen können. Je später der Abend wird, desto chaotischer ist die Show – Mikrophonständer fliegen durch die Gegend, das Akkordeon geht zu Bruch und es wird kräftig gebechert. Bon Jovi, Scorpions, Elvis Presley – die Humpaa-Versionen entpuppen sich als wahre Bretterknaller. Doch auch die beiden Vorbands von Eläkeläiset entpuppen sich als wahre Perlen der Musikkultur. Zuerst spielte „Kumikameli“ (zu deutsch: Gummikamel), die Zweitband von Onni und Martti Varis, eine Mischung aus Hardrock, Punk und Heavy Metal. In dunkelblauen Latzhosen kommen die vier Finnen auf die Bühne und benehmen sich eher wie die Karikatur einer Rockband. Onni als Sänger und Gitarrist spielt den diabolischen Rockstar, wenn er finnischen Texte mit einem rollendem „R“ im Staccato nöhlt. Doch als er dem Publikum in aberwitzigen Deutschbrocken erklärt, worum es im nächsten Lied geht, wirkt er wie ein schüchternes Kind. Kumikameli rocken tüchtig ab, doch das Publikum ist noch verhalten. Danach stürmt das Duo „La Sega del Canto“ die Bühne. Schon das Outfit von Jouni Salo und Markus Pulkkinen ist skurril. Unwillkürlich denkt man bei Salo, dem großgewachsenen mageren Finnen mit dem zerfurchten Gesicht und der Hornbrille, an einen Totengräber. Als er dann auf einer Säge mit seinem Geigenbogen zu spielen beginnt, versammelt sich das verdutzte Publikum vor der Bühne. Sie hören Frank Sinatras „My way“ im herzzereißendem Gejaule, begleitet von einer Konzertgitarre, die Pulkkinen spielt. In diesem atmosphärischen Stil geht es weiter: Viele Intrumentalstücke, darunter „O sole mio“ und „Hava nagila“, aber auch finnische Volksweisen mit Gesang bestimmen das aberwitzige Programm von „Canto“. Dieser skurrile Abend mit den Finnen hat mal wieder gezeigt, wie viel Spaß verrückte Ideen und unkonventionelle Musik machen können. Das Konzept ging auf – das Publikum hatte einen lustigen Abend und die Bands ihre verdienten Ovationen. Patrick Steller
Patrick Steller
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