Kultur: Kunst auf dem Kieker
Im Kunstraum: Kritiker und Autor Jörg Heiser seziert die zeitgenössische Kunst
Stand:
Der Kunstboom ist ein zweischneidiges Schwert. Einem überhitzten Markt und glamourösen Events stehen längst Ermüdungserscheinungen, Beliebigkeit und eine nicht mehr zu übersehende Orientierungslosigkeit gegenüber. An allen Ecken und Enden fehlt es an Kriterien, um der kaum noch überschaubaren Kunstproduktion unserer Zeit auf angemessene Weise zu begegnen.
Wenn inmitten dieses Dilemmas ein international agierender Kunstkenner, Kritiker und Kunstpublizist ein Kompendium unter dem Titel „Plötzlich diese Übersicht“ publiziert, lässt das die Herzen des Kunstpublikums naturgemäß höher schlagen. Die AG Gegenwartskunst, die sich im vergangenen Spätsommer in Potsdam gründete, um der zeitgenössischen Kunst in Potsdam durch gemeinsame Veranstaltungen ein öffentlichkeitswirksames Forum zu bereiten, hat die Gunst der Stunde rasch erkannt. Nur wenige Wochen nach dem Potsdam-Besuch des Kunstkritikers Hanno Rauterberg (Die Zeit) sprach am Freitagabend der Kunstkritiker Jörg Heiser, Chefredakteur der britischen Kunstzeitschrift frieze und Autor für die Süddeutsche Zeitung, im Kunstraum Potsdam. Ihm zur Seite führt der Kunsthistoriker und -kritiker Gerrit Gohlke (Vorsitzender des Brandenburgischen Kunstvereins Potsdam) moderierend durch den Abend.
Das Generalthema lautet sinngemäß: Welche Kriterien setzt der Kritiker für sich und das sich nach Orientierung heischende Publikum an, um in der zeitgenössischen Kunst die Spreu vom Weizen zu trennen? Die Erfahrung einer kaum noch kontrollierbaren Unübersichtlichkeit des internationalen Kunstbetriebs macht offenbar selbst eingefleischten Profis zu schaffen. Der Spannungsbogen des knapp zweistündigen Abends zieht sich letztlich an der latenten Erwartung entlang, inwiefern hier von den Experten Abhilfe zu erwarten ist.
Der Versuch, eine Übersicht über das aktuelle Kunstschaffen zu konstruieren, mündet allzu schnell in einem Paradox. Kaum hat die Kunstrezeption eine künstlerische Strömung oder Schule mit dem passenden Etikett vermeintlich festgeschrieben, „treten die Künstler“, wie es in dem Buch von Jörg Heiser heißt, „längst schon wieder aus ihnen heraus.“ Kunst zu kategorisieren mag in der vorrangig retrospektiv orientierten Kunstwissenschaft ein erprobtes und legitimes Mittel sein. Wer dagegen der zeitgenössischen Kunst mit Schubladendenken und Scheuklappen begegnet, schießt mit schöner Gewissheit am Ziel vorbei. Jörg Heises Plädoyer redet hier einer Kunstbetrachtung und Kritik das Wort, die dem Kunstobjekt so dicht wie nur möglich an den Fersen bleibt. Sein Buch mit dem Untertitel „Was gute zeitgenössische Kunst ausmacht“ folgt dem methodologischen Versuch, in das Kunstdickicht mehrere „Schneisen“ zu schlagen. Das Ganze letztlich motiviert aus der eingestandenen Sehnsucht des Autors heraus, nach 15 Jahren Kunstkritik übergreifende Tendenzen und Strukturen auszumachen, die aus seiner Sicht die zeitgenössische Kunst prägen und vorantreiben.
Nach einem angeregten Dialog zwischen den beiden Kunstkritikern am Pult geht das Gespräch in die große Runde. Die „Hausaufgabe“ des Abends lautet, in der Betrachtung und Beurteilung zeitgenössischer Kunst stets die eigene Sichtweise nachvollziehbar zu argumentieren. An das Fachpublikum im Raum ergeht der Appell, produktive Kriterien für einen fruchtbaren Diskurs zu entwickeln und dabei mit der eigenen Meinung und Urteilskraft nicht allzu sehr hinterm Berg zu halten. Kunst auf dem Kieker versus narzisstische Nabelschau. Almut Andreae
Almut Andreae
- showPaywall:
- false
- isSubscriber:
- false
- isPaid: