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Auftakt mit Ibsen. Der neue Theaterintendant Tobias Wellemeyer.

©  Andreas Klaer

ZUR PERSON: „Lasst uns die Wahrheit aushalten“

Tobias Wellemeyer über seine erste Potsdamer Inszenierung, den „nachtboulevard“ und den Reiz der Schiffbauergasse „Da will ich Ihnen mal ganz klar sagen: Ich finde das hier gar nicht schlimm.“

Stand:

Tobias Wellemeyer wirkt müde. Die intensiven Vorbereitungen für die Saisoneröffnung in der kommenden Woche sind ihm anzusehen. Und sein Urlaub, wie Wellemeyer sagt, liege schließlich nun auch schon drei Wochen zurück. Der Teppich in seinem Büro im Hans Otto Theater ist rot, die Wände weiß. Auf seinem Schreibtisch steht ein Laptop. Schaut er aus dem Fenster, kann er über den Tiefen See bis hin zur Glienicker Brücke schauen. An einer Wand steht eine Art Pult, auf deren Plexiglasplatte fünf schwere Stahlkugeln liegen. Ob es sich dabei um Boulekugeln handelt, kann Wellemeyer nicht sagen. Sein Vorgänger Uwe-Eric Laufenberg hat das zurückgelassen. Wellemeyer rätselt noch immer, was es damit auf sich hat. Der neue Intendant spricht mit ruhiger, sanfter Stimme. Kommt das Gespräch auf Henrik Ibsen, verliert sich Wellemeyer fast schon in einem Vortrag über diesen Theaterautoren. Aus seiner Stimme spricht dann die Leidenschaft des Regisseurs.

Herr Wellemeyer, Sie selbst sagen von sich, dass Sie nie zurück schauen. Doch gerade in „Die Wildente“, mit der Sie das Hans Otto Theater am 1. Oktober unter Ihrer Leitung eröffnen, geht es um den Blick zurück, der alles Bestehende in Frage stellt.

Ich glaube nicht, dass Ibsens „Die Wildente“ eine retrospektive Geschichte ist. Hier wird gefragt, woraus unsere Motive gemacht sind, nach denen wir handeln und ob wir uns aus der Vergangenheit herausreden können. Ich bin von diesem Autor sehr angezogen, weil er sagt: Du bist für Dich verantwortlich. Du bist die Struktur. Du musst Dein Leben ändern. Du wirst Dich am Ende nicht herausreden können. Für das Theater sind das sehr starke Fragen.

Haben Sie „Die Wildente“ also bewusst als Eröffnungsstück gewählt oder ist es nur eine Inszenierung von vielen, das zufälligerweise am Anfang steht?

Ich habe natürlich nach einem Stück gesucht, in dem ich mich auch wiederentdecke. Und von dem ich glaube, dass ich es aus einem Vertrauensverhältnis zu bestimmten Schauspielern heraus erzählen kann. Es sollte auch eine Geschichte sein, die hier her passt. Denn ich suche mit „Die Wildente“ nach der Antwort, wie man es schafft, dass die Seele wieder fliegen kann und das passt, denke ich, gut zum Standort und zu unserem Ensemble. Das ist ganz wichtig für einen solchen Start.

Was macht ausgerechnet dieses Stück so besonders, warum berührt es Sie so stark?

Da kommt ein Freund zu seinem Freund und mutet ihm die Wahrheit über seine Frau zu. Er will Schluss machen mit dem ganzen Lügendreck. Andere, wie Relling, der Arzt, der sich um seinen Verstand getrunken hat, will, dass alles so bleibt, wie es ist. Denn so muss er sich auch selbst nicht bewegen. Doch wollen wir es wirklich fortsetzen, das „Wohnen. Dämmern. Lügen“, um mit dem Schriftsteller Botho Strauß zu sprechen? Wenn wir hier aus dem Fenster schauen, sehen wir die Glienicker Brücke. Können wir die Vergangenheit wirklich fernhalten? Ich plädiere dafür: Lasst uns die Wahrheit leben! Lasst sie uns aushalten!

Ibsens „Die Wildente“ ist eine von allein acht Premieren zum Start Ihrer Spielzeit im Oktober. Insgesamt wollen Sie 29 Neuproduktionen in der kommenden Spielzeit auf die Bühne bringen. Warum so viel?

Die Schauspieler können sich mit diesen Stücken gut ihrem Publikum vorstellen. Das ist sehr wichtig für ein neues Ensemble, dass jeder die Chance hat, sich mit einer starken Rolle zu präsentieren.

Das klingt aber auch nach „Masse statt Klasse“. Befürchten Sie da nicht Qualitätsverluste?

Diese Sorge habe ich nicht. Denn mit seinem Ensemble sucht man am Anfang auch eine starke Verausgabungssituation, die eigene Leistungsgrenze. Es gibt andere Theater, die viel mehr Premieren zu ihrer Eröffnung gezeigt haben. Das finde ich wiederum sehr schwierig, weil man dann Theater sportiv begreift. Wir wollen den Potsdamern einen interessanten Herbstspielplan bieten und es durch die Vielfalt in die Lage versetzen, das neue Ensemble zu sehen und auch zu bewerten.

Können Sie schon jetzt etwas über das Interesse der Potsdamer am neuen Ensemble sagen? Wie läuft der Kartenverkauf?

Der wird von Tag zu Tag besser. Es gibt derzeit keine Vorstellung, die vom Publikum favorisiert oder vernachlässigt wird. Natürlich wünscht man sich als Intendant, dass schon jetzt alle Vorstellungen bis Weihnachten ausverkauft sind. Aber wir können uns nicht beklagen.

Mancher fragt sich vielleicht, warum er ins Theater gehen soll, wenn er doch einen Fernseher hat.

Theater bietet eine wirklich authentische Begegnung mit Menschen, wie es andere Medien nicht schaffen. Ein Kuss oder der Tod auf der Bühne verursachen ein anderes Herzrasen als im Fernsehen. Wenn man es gut macht.

Wäre es nicht auch von Vorteil, wenn Sie bestimmte Inszenierungen mit bekannten Schauspielern, mit Stars besetzen würden?

Ich handele nicht mit Stars, sondern mit Talenten. So wie mit Peter Pagel, der schon unter Jürgen Gosch am Deutschen Theater spielte und jetzt in der Wildente als Ekdal eine super gute Arbeit zeigt.

In Magdeburg waren Sie der „General“ und für drei Sparten verantwortlich. Ist Potsdam jetzt nicht eine Nummer zu klein?

Ich hatte in Magdeburg das Gefühl, mich zu zerfasern und sehnte mich nach einer Focussierung. Ich bestimme mich sehr über die kreatürliche Arbeit, sie muss immer spürbar sein, sonst fällt es mir schwer, mich zu motivieren. Auch die Kollegen haben ihren Anspruch und sagen: Sei nicht so weit weg von uns, Chef! Schauspieler wünschen sich Rückmeldungen, wollen gesehen werden. Und dann muss ich auch auf Proben, um weiterzuhelfen, wenn es zwischen Regisseur und Schauspielern nicht richtig klappt. Dann bin ich der beschützende, väterlicher Freund.

Wie viele Stücke werden Sie trotz Intendantenaufgaben in Potsdam zukünftig selbst inszenieren?

Es werden sicher zwei pro Spielzeit. Jetzt zur Eröffnung musste ich etwas mehr ran, denn wir brauchen zum Neustart viele Stücke für einen interessanten Spielplan. Schließlich wollen wir als Stadttheater jeden Tag etwas anderes zeigen. Und da wir kein zusätzliches Geld bekommen haben, wie es an anderen Theatern bei einem Leitungswechsel oft der Fall ist, müssen wir bis an unsere Grenze gehen.

Ihre Arbeit beschränkt sich aber nicht nur auf das Theater. Sie bieten mit dem „nachtboulevard“ unter dem Motto „Lange Nächte mit Kunst und Party, Neuer Dramatik und Literatur, Performance und Diskurs, Musik und Film“ in der Reithalle ein völlig neues Format an. Gehört das auch zu den Aufgaben eines Stadttheaters?

Wir können nicht nur einen Farbeimer Kunst anrühren, ihn um 19.30 Uhr über die Zuschauer schütten und dann wieder losgehen. Es braucht auch danach Räume des Zusammenseins, des Bleibens, der Flucht, wir müssen um die Vorstellungen herum Clubformate etablieren.

Die aktuelle Diskussion um den Standort Schiffbauergasse thematisiert ja gerade auch das Problem, dass für solche Clubformate das Publikum fehlen würde.

Da will ich Ihnen mal ganz klar sagen: Ich finde das hier gar nicht schlimm. Alle reden hier immer und unentwegt von totsaniert. Ich aber kann das so nicht feststellen, denn ich weiß nicht, woran ich diese Behauptung messen soll.

Da wird immer wieder die Zeit vor der Sanierung bemüht, als die Schiffbauergasse besetzt wurde und sich hier eine bunte Alternativkultur entwickeln konnte.

Ich kenne die Vorgeschichte des Standortes nicht. Wir sind hier angekommen und alle Kollegen haben in der Kantine gesessen, fassungslos auf den Tiefen See rausgestarrt und eine solche Idylle gar nicht für möglich gehalten. Da habe ich schon scherzhaft gedroht, dass ab September der See schwarz abgehangen wird. Wir alle sind begeistert von diesem Ort.

Mit Verlaub, das klingt jetzt aber ein wenig zu optimistisch.

Natürlich haben wir eine paar Wünsche und auch Fragen. So habe ich dem Oberbürgermeister geschrieben, dass es von Oktober bis März ab 16 Uhr zu dunkel am Standort ist. Keiner findet irgendwo hin. Wir brauchen ein Lichtkonzept, um den Ort zu beleben. Das können wir nicht selbst bezahlen. Der Oberbürgermeister hat mir dann mitgeteilt, dass er die Anfrage weitergeleitet hat.

Anfragen weiterleiten innerhalb der Verwaltung, das allein ist schon ein Thema für sich.

Ich bin da ganz guter Hoffnung, dass da im kommenden Jahr etwas passiert. Ansonsten wird es absurd.

Viele finden die heutige Situation schon absurd genug.

Aber das alles steht doch noch gar nicht so lange und noch wird hier gebaut. Dadurch entsteht natürlich auch eine neue Wirklichkeit. Jetzt kommt es auf die Künstler und Künstlerinnen an, die Menschen, die hier am Ort arbeiten, etwas daraus zu machen. So ein Kulturstandort muss sich auch immer wieder neu erfinden. Aber letztendlich wird er immer nur so stark sein wie das, was wir hier machen. Dann kommen auch die Leute, wenn wir hier interessant und sexy sind.

Das Gespräch führten Heidi Jäger und Dirk Becker

Das Hans Otto Theater mit dem neuen Ensemble unter Tobias Wellemeyer eröffnet mit „Die Wildente“ am Donnerstag, 1. Oktober, 19.30 Uhr, die neue Saison. Informationen unter anderem zum Spielplan unter www.hansottotheater.de

Tobias Wellemeyer wurde 1961 in Dresden geboren. Er studierte Theaterwissenschaft in Leipzig und war von 1989 bis 2001 Regisseur am Schauspielhaus Dresden. 2001 wurde er Intendant der Freien Kammerspiele Magdeburg und 2004 Generalintendant des Theaters Magdeburg. 2009 erhielt Wellemeyer den Preis des Kritkerverbandes in der Sparte Theater. Seit diesem Sommer ist er Intendant am Hans Otto Theater. Tobias Wellemeyer ist verheiratet, hat eine Tochter und lebt seit kurzem in

Potsdam. kip

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