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Kultur: „Lebendig hab“ ich sie geküsst“

Das „Phantom der Oper“ brachte Spannung in den Nikolaisaal

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Das „Phantom der Oper“ brachte Spannung in den Nikolaisaal Die kulturpolitische Bedeutung des Kusses im Allgemeinen und für die Kunst im Besonderen ist nicht zu unterschätzen. Mal führt er zum Tode, mal zum Erwachen, beides könnte man, bei Spinnenfrau und Dornröschen, Erlösung nennen. Vielleicht ist dasselbe gemeint. Auch jener kunstbesessene Unhold, welcher in der 1875 eröffneten Pariser Oper sein Unwesen treibt, bei laufender Vorstellung einen Kronleuchter auf das Publikum stürzt, einen Bühnenarbeiter in den strangulierenden Selbstmord jagt, das nächste Opfer in der dritten Versenkung der Bühne den Tod finden lässt, braucht dringend einen solchen, und zwar von der aufstrebenden Chorsängerin Christine. Er ist das berüchtigte „Phantom der Oper", wie ihn sich der französische Autor Gaston Leroux im Jahre 1910 ausgedacht hat. Busserl hin oder her, dieser Stoff steht seit Jahren ganz oben im Spielplan der Bühnen der Welt – offenbar hat die Realität ein großes Bedürfnis nach Illusion. Umgekehrt auch. Obwohl das nämliche Phantom (soweit es das Stichwort „Theater" betrifft) hierzulande eher im Stadthaus zu sitzen scheint, hat sein unerklärliches Hauchen nun auch eine Potsdamer Bühne erreicht, erfreulicherweise den Nikolaisaal, der sich eher selten theatralisch gibt. Das gediegene Gastspiel der „Central Musical Company“ aus Bietigheim-Bissingen nahe Stuttgart am Freitag war dicke ausverkauft. Paul Wilhelm schrieb dem Musical nach Leroux ein Libretto in 20 Bildern, Arndt Gerber eine meist ohrwurmige Musik über 150 Minuten. Ihr Produkt lebt sehr aus dem Geiste Europas, indem es, trotz unmelodiöser Teile, den Wechsel von Singen und Sprechen in den Urstand des Genres zurücksetzt und die Handlung betont. Auch Bizets „Perlenfischern" als Spiel im Spiel auf der Opernbühne, mit fünf jungen Tänzerinnen reizvoll choreographiert (Maria Menzo), bedeutet das „alte Europa". Am Wichtigsten aber: erlebtes Theater, nicht Show! Die Handlung: Das in kryptischen Tiefen des weitläufigen Hauses lebende Phantom (Ingo Anders) begehrt die Liebe der schönen Christine (Stefanie Wesser mit guten Sopranqualitäten und lockerer Ausstrahlung), obwohl diese mit dem Grafen Raoul (Sebastian Bütow, sehr guter Tenor) zusammen ist. Der ewig Flüchtige verspricht ihr zum Lohn noch höhere Sangesqualitäten, als sie die derzeit herrschende Diva Carlotta (Beate Vetsera) besitzt, doch zögert sie, als sie hinter seiner Maske ein hässliches Wesen entdeckt, wie auch bei der „Schönen und dem Biest". Mit neun fast gleichguten Darstellern gelingt es Regisseur Manfred W. von Wildemann, eine flott und reizvoll erzählte Geschichte über die Rampe zu bringen, wobei dem Bühnenbild (Hermann Hess) eine besondere Bedeutung zukommt: Ein roter Vorhang markiert wahlweise Vorder- oder Hinterbühne der Oper, mit wenigen Versatzstücken und einer gehängten Blende werden Kellergewölbe, Foyer und Direxzimmer daraus, wo sich bald die Polizei (Christian Trabert mit Colombo-Qualitäten) einfindet, um die mysteriösen Vorgänge zu untersuchen. Undurchsichtig die Logenschließerin Giry (Ute Schönfelder). Jeder trägt ein historisches Kostüm, Auf- und Abgänge funktionierten tadellos. Theo Thünken (Operndirektor) und Alexander Hohler (sein Sekretär) geben ein großartiges Paar ab, Horst Wolff den philosophischen Pförtner, der weiß, dass Theater den Konflikt zwischen Illusion und Wirklichkeit spiegelt, und hinter den Dingen der Bühne ruht die Ahnung, wie eng sich Liebe, Kunst und Tod berühren. Etwas zu kurz kam, was die ganz ungewiss angelegte Titelfigur in ihrem Taumeln ausdrückte: Die Nähe von Kunst und Verbrechen. Leroux siedelt sie ja genau auf dem Grat zwischen Traum und Fantasie an, so erfährt man lange nicht, ob sich ein krankhaftes Menschenhirn dahinter verbirgt oder ein echter Geist. Auch Christine behielt es für sich. Weil sie aber glaubt, das Böse könne nur ein verwandeltes Gutes sein, gab sie ihre Solo-Arie „Kann man singen ohne Liebe?" mehrmals. Das Phantom flehte: „Glaube an mich, Christine!", und so geschah im Kurzweil der Handlung auch seine Erlösung: Einen Kuss nur begehrte das Monster zuletzt von ihr, er sollte ihn von der passiven Schönen auch final bekommen. Mit den geflügelten Worten „Lebendig hab'' ich sie geküsst" verschwand er auf Nimmerwiedersehen im Spiegel. Lebendig! Der Spuk war vorbei, im Paris von 1910. Jede verkauft Illusion als Wirklichkeit, auch im Nikolaisaal. Ob in dieser Inszenierung immer alles mit rechten Dingen zuging oder sich manchmal Playback-Parts einschlichen, lässt sich schwer beurteilen. Bunt war''s, schön war''s, spannend war''s – mit Kuss und gutem Schluss. Will man noch mehr? Gerold Paul

Gerold Paul

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