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Kultur: Letzte Runde

Eine nicht sehr traurige Geschichte zum Totensonntag

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Eine nicht sehr traurige Geschichte zum Totensonntag Von Elisabeth Richter Meine Tante ist nun tot. Sie ist, wie es heißt, in ihrem Sessel friedlich eingeschlafen, am Samstagabend nach einem lustigen Romménachmittag mit ihren beiden Kusinen. Ein völlig überraschender Tod. Der Tod ist immer überraschend, auch mit Fünfundsiebzig. Die Nichten und der Neffe haben mit diesem Tod schon wieder ein Stück ihrer Kindheit verloren, von den Töchtern ganz zu schweigen, und in dieser kleinen Erschütterung und dem nagenden, aber nicht überwältigenden Schuldgefühl, diese Tante im letzten halben Jahr nicht angerufen zu haben, obwohl ich es immer vorhatte, in dieser kleinen Erschütterung also wächst der Wunsch nach einem letzten Geleit, einem ordentlichen Abschied. Also auf zur Beerdigung, acht Stunden Bahnfahrt sind hier völlig angemessen. Der Pastor spricht arg routiniert, er kannte die Verstorbene, verübelt aber deutlich der von weither angereisten Nachkommenschaft, nie seine Gottesdienste besucht zu haben. Vorn steht der Sarg mit dem Blumenschmuck, gelbe Gerbera, weiße Chrysanthemen. An Kränzen hängen große Taftschleifen mit „Ein letzter Gruß“ und „In Liebe“. In diesem Sarg liegt sie nun und lässt die Ansprache über sich ergehen. Aber ich höre, wie sie sich entrüstet: „Ei, der hat doch käh Ahnung von nix!“ Auf dem Friedhof dröhnt sich der Leichenwagen, ein schwarz getarnter Trecker, den Hang hoch und spuckt Dieselwolken auf den Trauerzug. Später wird eine andere Nichte spotten: „Die sorgen dafür, dass ihnen die Kundschaft nicht ausgeht.“ In den Motorenlärm hinein setzt hinter mir das leise Gequassel ein: Die Schülergemeinschaft der Tante und die Diamantene Konfirmation ist - soweit noch am Leben - vollzählig erschienen; grauweißbläulich kleben die Löckchen um die Köpfe, manche alte Dame erscheint mondän in Rotblond. Es ergibt sich eine Trauerrangfolge: Vorn die Töchter mit Männern und Kindern, die eine mit neuem Ehemann, der sozusagen aus dem Nichts in dieser Trauerrangordnung ziemlich hoch aufgerückt ist, er dürfte die Verstorbene kaum gekannt haben; der Exmann ist nicht zu sehen. Danach kommen die blutsverwandte Nichte mit Mann und Tochter, dahinter die Kusinen (die vom Kartenspiel), der Neffe mit Frau, dann ich, ich bin die Nichte des verstorbenen Ehemannes, nicht blutsverwandt, aber doch: Nichte. Bereits in der Kapelle drängen sich ein paar Herrschaften von der Diamantenen Konfirmation vor. Das kann ich nicht dulden, ich poche mit aufschießender Eifersucht auf meinen Verwandtenstatus und mein Recht, weiter vorn zu trauern, zumal die Herrschaften angeregt plaudern, ganz wie beim Betriebsausflug. Die Gehwege zwischen den Grabreihen sind schmal, wir müssen Schlange stehen. Jetzt wird der Sarg an Stricken hinabgelassen, Hälse recken sich. Ein beiläufiges Vaterunser, ein knappes Händeschütteln für die weinenden Töchter, und der Pastor verschwindet mit großen Schritten und wehendem Talar. Vielleicht kann er Frauentränen nicht sehen, vielleicht findet er, dass fünfundsiebzig Jahre genug sind, vielleicht hat er einfach einen schlechten Tag. Die Frauen und Kinder werfen Blumen in die Grube, ein letztes Licht in die dunkle Erde. Einen irren Moment lang erwische ich mich beim Zielen und dem kleinen Triumph, dass meine weiße Rose mitten auf dem Sarg gelandet ist, es sieht aus wie gemalt, und ich sehe die Tante hinter vorgehaltener Hand losprusten. Sie sprach Dialekt, und sie lachte Dialekt. Wie konnte sie sich einfach davonschleichen aus meinem Leben? Ohne vorher Bescheid zu sagen! Das große Schluchzen erwischt mich. Die andere Kusine überreicht mir diskret ihre Packung Tempotaschentücher. Die Töchter bleiben neben dem Grab stehen und nehmen das Défilé der Hände ab. Ein Herr im weißen Mantel und Zylinderhut ist der Letzte, er bleibt stehen und spricht angeregt; unter uns anderen Verwandten kommt das frohe Gerücht auf, es handele sich um einen heimlichen Liebhaber der Tante. Wir treffen uns alle wieder im Hinterzimmer einer Gaststätte. Lametta-Palmwedel hängen von der Decke, und die Herrschaften von der Schülergemeinschaft und der Diamantenen Konfirmation warten bereits pietätvoll vor leeren Kaffeetassen auf die Hauptleidtragenden. „Krampfadergeschwader“ hätte mein Vater gesagt. Es wird eine lebensvolle Runde mit Kaffee, belegten Brötchen und Cognac, es wird von Reisen erzählt und hier und da schrill gelacht. Endlich bekomme ich die süddeutsche Verwandtschaft der Tante zu Gesicht, aber was soll''s? Zum einen Auge rein, zum andern wieder raus. Ein sehr alter Herr zeigt den Töchtern Fotos vom Bau des Elternhauses aus der Zeit vor ihrer Geburt, sie sind gerührt und begeistert. Mein Patenkind, das ich so selten sehe, erzählt mir Geschichten aus der Schule. Die Diamantenen Konfirmanden genießen den Triumph, wieder einmal überlebt zu haben. Sie sind schon so oft auf Beerdigungen gewesen, dass sie aus Erfahrung wissen: sterben tun immer nur die andern. Davon gehen wir alle aus und schlagen uns zur Bekräftigung den Bauch voll mit gutem, lebendigem Essen. Es ist wirklich schön. Auch ohne die Tante. Obwohl: Sie fehlt einfach, die Hauptperson. Und sie wird ab jetzt immer fehlen.

Elisabeth Richter

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