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Jenseits der Unschuld. Unter der dräuenden Apokalypsesuppe tanzen „Heinecke, Borissova, Schulze“ in ihrer Performance „Fürchte dich nicht“. Darin dreht sich alles um Klimawandel, Ressourcenknappheit, Überbevölkerung und Pandemien.

© promo

Kultur: Live, schnell, unvermittelt

Das T-Werk ruft am Samstag zur langen Nacht – ein Ritt durch die freie Theaterszene des Landes

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Fernsehen war vorgestern, Web gestern, jetzt ist Theater. Diese ziemlich willkürlich durcheinandergewirbelte Chronologie der Erfindungen von medialen Präsenzformen könnte zu einem durchaus berechtigten Schlachtruf taugen, um die Leute vom Sofa wegzulocken. Und zwar geradewegs vor die Bühne. Zurück zum Livegeschehen. Der Anlass jedenfalls wäre gegeben: Zum bereits elften Mal lädt das T-Werk in der Schiffbauergasse zur langen Nacht der Freien Theater und bietet innerhalb eines Abends nicht weniger als insgesamt zwölf Veranstaltungen. Einschließlich Abschlusskonzert. Während sich der Veranstaltungsmarathon damit in die bunte Festivalkultur Potsdams einreiht, bedient er sich gleichzeitig jener Erregungsstrategie, die glaubt, viel ist auch mehr. Lange Nacht der Museen, Lange Nacht der Wissenschaften, Lange Nacht der Industrie, das kann mitunter auch auf Unbehagen stoßen. Schließlich braucht es dafür ausgeruhte Konsumenten, die nicht am Informations- und Beschallungs-Burnout leiden. Ganz zu schweigen vom Angebot der Akteure, die in erster Linie für sich selbst werben. Quasi ein Balzverhalten für Geld.

Sei es drum. Schon seit geraumer Zeit reagiert der Kulturinteressierte auf medial-elektronische Überfütterung, indem er sich mit Genuss wieder dem Live-Geschehen zuwendet. Musikfestivals, Lesesalons, Symposien und deren mehr. Den positiven Effekt bekommt auch das T-Werk zu spüren, das bei der gleichen Veranstaltung im Vorjahr insgesamt immerhin rund 300 Besucher zu verzeichnen hatte und in diesem Jahr mit ähnlichen Zahlen rechnet. Die Lange Nacht der Freien Theater versteht sich als Treffpunkt der brandenburgischen Theaterszene, einerseits um deren Vielfalt für das Publikum sichtbar zu machen. Andererseits um das eigene Netzwerk zu pflegen, sich gegenseitig zu begegnen und – natürlich – Möglichkeiten abzuklopfen, die für die eine oder andere Zusammenarbeit mit diversen Förderern sprechen.

Dabei ergibt sich die Vielfalt von selbst. Ist aber auch Programm. „Je breiter das Spektrum ist, desto besser finde ich es“, sagt der neben Franka Schwuchow für die künstlerische Leitung zuständige Jens-Uwe Sprengel. Entsprechend fallen die Darstellungsformen ganz unterschiedlich aus. Sprechtheater, Tanzperformances, Actionsatire, Lesung mit Musik. Das alles ist erlaubt und erwünscht, mit einer Voraussetzung: Es muss professionell gemacht sein. Darüber hinaus hat sich seit dem Bestehen der Veranstaltungsnacht ein Segment als besonders tragfähig erwiesen: Gezeigt werden immer nur Ausschnitte von Produktionen, die anderswo in ganzer Länge laufen oder zum Teil erst später Premiere feiern. Im Vorjahr gelang es dem international besetzten Wandertheater „Ton und Kirschen“ so innerhalb einer Woche, etwas halbstündiges Verwertbares bühnentauglich auf die Beine zu stellen.

Alles in allem dauert die längste Vorstellung allenfalls 40 Minuten. Event-Hopping zwischen der großen Bühne im T-Werk, der Probebühne, dem Schirrhof und der Schinkelhalle ist machbar. Zuschauer können sich jederzeit aus- und wieder einklinken und zwischendurch den Mai mit Bier und vermutlich Bratwurst genießen.

Aufgrund des starken Andrangs im Vorjahr beginnt die Lange Nacht des Freien Theaters dieses Jahr bereits um 18 Uhr. Das Potsdamer „Theater Poetenpack“ eröffnet mit einem Auszug aus dem Stück „Kunst“ der meistgespielten Bühnenautorin des aktuellen Literaturbetriebes Yasmina Reza. Teo Vadersen, Andreas Hueck und Justus Carrière begeben sich in die Rollen dreier Freunde, die am Fallbeispiel moderner Gegenwartskunst – ein weißer Streifen auf weißem Grund – in einer klassischen Wertediskussion landen, die letztlich ihre Beziehungen zueinander auf den Prüfstein stellt. Auf die Konversationskomödie unter der Regie von Carl-Hermann Risse folgen unter anderem die interaktive Theaterinstallation „Das Lobbüro“ der „flunker produktionen“ aus Wahlsdorf, bei der das Publikum als Lobempfänger auf mehr oder minder humorvolle Art und Weise selbst Eingriff in die Aufführung nimmt. Oder die Potsdamer Tanztheaterperformance „Fürchte dich nicht“ von „Heinecke, Borissova, Schulze“, worin schwergewichtige Idiome auf die Bühne kommen: Klimawandel, Ressourcenknappheit, Überbevölkerung und Pandemien bilden hier den Urschleim der Apokalypsesuppe, die offenbar kurz bevorsteht, sich über den Köpfen der in den Himmel Schauenden abzuregnen.

Während schließlich das Musikproduzenten- und Kompositionspaar „Nitzsche und Hummel“ mit Elementen aus Electronic, Acid Jazz und Klassik dem Abend einen soundtechnischen Schlussakkord setzen wird, liefert zuvor das T-Werk einen eigenen Beitrag mit Lesung zur Musik. In „Die geheime Mobilmachung“ stellt Franka Schwuchow die Tagebücher von Joseph Goebbels und Victor Klemperer gegenüber und spiegelt 70 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges die folgenschwere Zeitgeschichte Europas wider. Allein dafür lohnt sich ein kurzer Abstecher weg von Fernseher und Smartphone zum Theater.

Ralph Findeisen

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