Kultur: Lyrik zum Mitsingen
Tocotronic spielten im Waschhaus
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Früher hieß das wichtigste Wort im Tocotronic-Kosmos Ich. Ich gegen den Rest der Welt, gegen Fahrradfahrer, Gitarrenhändler, Michael Ende und gegen Spießer. „Alles was ich will, ist nichts mit euch zu tun haben“, tobten sie und meinten das ernst. Vielen pubertierenden Jugendlichen sprachen sie damit aus der Seele. Und doch war auch schon der ersten Single die Sehnsucht nach einem gemeinschaftsstiftenden Wir eingraviert. „Ich möchte Teil einer Jugendbewegung sein“ machte Tocotronic 1994 zu Stars, zu dem viel zitierten Sprachrohr einer Generation.
Heute machen Tocotronic keine Hasslieder mehr. Sie singen sie auch nicht mehr, auch wenn einige aus dem Publikum im Waschhaus lauthals danach verlangten. Tocotronic sind im Reich der Metaphern angekommen, einer Gedankenwelt, in der es statt Schwarz und Weiß Graustufen gibt – und Farbe. Am Freitagabend boten Tocotronic akustisches Breitwandkino. Die Auferstehung des elegischen Gitarrensounds der späten 90er, à la Dinosaur Jr und Sonic Youth.
Schon die Vorband kündigte kongenial dieses musikalische Programm an. Einige der ganz frühen Tocotronic-Fans dürften 18th dye noch gekannt haben. Jetzt sind sie wieder da und aktualisieren einen Sound, der sich wohltuend von der gegenwärtigen Retrokultur im Pop abhebt. Der Unterschied liegt in der Hingabe, in der sich klanglich artikulierenden Leidenschaft.
Genau das ist es auch, was Tocotronic mit nach Potsdam brachten. Sie präsentierten die großen Gesten ihrer Karriere, Rockmusik in ihrer Pathosformel, für alle Sensiblen, alle Dandys und Verstörten, „die schon mit einem Nervenzusammenbruch auf die Welt gekommen sind“, so Sänger Dirk von Lotzow. Rockmusik als Heilmittel gegen Depression und Vereinsamung. Wenn Lotzow beschwörend „Alles gehört Dir, eine Welt aus Papier“ singt, brandet von der Bühne eine Welt aus Klang und aus Schweiß. Aus Klangwänden und aus Schweißbächen.
Verschiedentlich wird der Band vorgeworfen, zu kopflastig geworden zu sein. Aber das waren sie schon immer, bereits auf ihrer zweiten Platte haben sie Wittgenstein zitiert. In Potsdam halfen sie denen, die nach intertextuellen Bezügen in ihren Texten suchen, mit Hinweisen auf Foucault und Wilhelm Reich weiter. Aber wer sagt denn, dass intellektuelle Leidenschaft den Sex ausschließt? Dass Wortkaskaden nicht sinnlich sein können?
Die Massen im ausverkauften Waschhaus bewiesen, dass die Texte trotz ihrer lyrischen Exponiertheit immer noch hervorragend zum Mitsingen geeignet sind. Und dass sie immer noch identitätsstiftend sein können. Denn mit dem neuen Album „Kapitulation“ wenden sich die Hamburger gegen die neoliberale Vereinnahmung des Einzelnen zum allzeit bereiten Werkzeug. Wo die Illusion von Selbstverwirklichung in einer prekären, rechtlosen Sackgasse von Scheinselbstständigkeit mündet, hilft nur die Verweigerung, die Absage, die Suche nach einem anderen Wir.
Insofern sind Tocotronic, wenn auch implizit, politisch. Sie sind keine Propagandisten von Ideen, sondern evozieren den emotionalen Widerstand und die gedankliche Reflexion. Fakten bietet schließlich der Alltag selbst, und manchmal auch die Zeitungslektüre. Ihre Hingabe an die Poesie ist eine Absage an diktatorisches Denken. Gegen Nietzsche und gegen faschistische Inszenierungen im Stile Riefenstahls lauten die letzten Worte der aktuellen Platte: „Kein Wille triumphiert“.
Das Konzept der musikalischen Orgie, aus dem einzig das großartige „Sag alles ab“ herausfiel, gespielt in einer Speedversion, die alle In-die-Luft-Springer aus dem Rhythmus brachte, ging auf. Nach gut zwei Stunden und mehreren Zugaben waren Band und Publikum gleichermaßen erschöpft – und glücklich.
Lene Zade
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