Kultur: Manieristische Bachexegese
Das Eröffnungskonzert der VI. Bachtage Potsdam
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Der Nikolaikirchenkantor Björn O. Wiede, zugleich künstlerischer Leiter der Bachtage Potsdam, hält es mit Brecht: er unterbreitet Vorschläge. Man muss sie ja nicht unbedingt goutieren, geschweige denn akzeptieren. Wie jene Manie, Chorstellen nicht von einem Chor, sondern von Solisten singen zu lassen. Angeblich sei solche Vorgehensweise originale Aufführungspraxis, wird er nicht müde zu betonen. Warum steht dann in den Partituren „Coro“ und nicht „für Soli a quattro, cinque, sei“? Beim Eröffnungskonzert „Magnificat – Missa“ des Musenfestes am Freitagabend in der Friedenskirche führt er selbige Verfahrensweise erneut vor. Was einst neu und spannend schien, hat sich mittlerweile abgenutzt, ist zur manieristischen Bachexegese verkommen.
Bei den Wiedergaben des Magnificats D-Dur BWV 243 und der Missa (Kyrie und Gloria der späteren h-Moll-Messe) macht sich das Fehlen eines richtigen Chores hörbar bemerkbar. Die fünf Solisten, die die fünfstimmigen Chorszenen zu bewältigen haben, können sich gegen die klangprächtige, paukenumwirbelte und von drei Trompeten glanzvoll umstrahlte „Magnificat“-Einleitung nicht durchsetzen. Und auch im Schluss-Chor „Gloria Patri, gloria Filio“ fehlt es schlichtweg an Masse, um chorische Klasse erzeugen zu können. Es sind und bleiben fünf Einzelstimmen, die zusammen singen. Mehr nicht. Das soll im Sinne von Bach sein?
Auf das Notwendigste abgespeckt ist auch der Begleitapparat, der aus einem Instrumentalensemble von Könnern der historischen Spielweise auf alten Instrumenten besteht. Auf sie greift Björn O. Wiede aus gutem Grund seit Jahren immer wieder zurück. Spielerisch beweglich, natürlich vibratolos, transparent und der schärflichen Klangproduktion hingegeben, musiziert man einen asketischen, fast zum Skelett abgemagerten Barockmeister. Den aus Fleisch und Blut bleibt uns der Dirigent größtenteils schuldig. In gleichmäßigem Metrum schreitet die tönend bewegte Materie des „Kyrie“ aus der „Missa“ gemächlich voran, während sie im „Gloria“ durchaus zu Zwischenspurts anheben darf.
Die analytische Sichtweise führt andererseits dazu, dass auch der Ungeübte die Entflechtung des kunstvollen kontrapunktischen Stimmengeflechts nachvollziehen kann. Leuchtende Augen bekommt er dabei nicht. Die jungen Gesangssolisten, fast alle aus der Dresdner Talenteschmiede, begeistern sowohl im „Magnificat“ als auch in der „Missa“ mit biegsamen und klaren Stimmen. Allen voran Barbara Christina Steude mit ihrem lyrisch sich verströmenden, klar und ausgeglichen bis in strahlende Höhen reichenden Sopran.
Hell getönt, kraftvoll und sattelfest in der Höhe zeigt sich ebenfalls Tenor Michael Schaffrath, der im „Magnificat“ die Arie „Deposuit potentes“ (Er stößt die Gewaltigen vom Thron) sehr selbstbewusst anstimmt. Als Alt(us) versteht es der aus Basel stammende Alex Potter zaubergleich mit schlicht vorgetragenen und ausgeglichenen Gesangslinien zu faszinieren. Beispielsweise in der „Missa“-Arie „Qui sedes“ (Der du sitzest). Als zweiter Sopran weiß Ulrike Staude in beiden Werken ihre etwas gedecktere Stimmfarbe vorzüglich zum Klingen zu bringen. Der Bassist Matthias Lutze verfügt für die „Magnificat“-Arie „Quia fecit mihi magna“ (Der da mächtig ist) und die „Missa“-Arie „Quoniam tu solus sanctus“ (Du allein bist heilig) über einen langen Atem und jene ausdrucksvolle, markant-geschmeidige Tiefe, was ihn bald zu einem Großen in seinem Fach machen dürfte.
Sie alle werden bei ihren solistischen Betrachtungen stilkundig von diversen Instrumentalisten begleitet – wie Wolfgang Hasleder (Violine), Benedek Csalog (Flauto traverso), Reinhold Friedrich (der die Trompetentrias anführt), Christian-Friedrich Dallmann (Corno da caccia) oder jene zwei ungenannt gebliebene Fagottisten, die der „Quoniam“-Bassarie das erforderliche „Sahnehäubchen“ aufsetzen. Nach dem federnd ausgeführten „Cum Santo Spiritu“-Schluss-„Chor“ dankt langer Beifall allen Beteiligten.
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