Konzert im Nil-Klub: Mathematik kann auch Spaß machen
Am Dienstagabend gab es ausufernden Jazzrock mit Perhaps im Nil-Klub.
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Mathematik verbindet man eher mit nüchterner Naturwissenschaft als mit leidenschaftlicher Musik. Zwei Sachen, die man nicht miteinander kombinieren kann, die sich ausschließen müssten – erst recht, wenn das Genre Rockmusik betroffen ist. Aber ach, von wegen! Math-Rock hat zwar weniger mit nüchternen Zahlen zu tun, aber mit hoch komplexen Strukturen durchaus, so viel schon mal vorweg.
Was es mit dieser Mathematisierung des Rock auf sich hat, wollten einige herausbekommen, die am Dienstagabend zum Konzert der Bostoner Band Perhaps in den Nil-Klub am Neuen Palais gekommen waren. Aber die mussten noch etwas warten: Als Support trat zuerst die Potsdamer Band Sand an, sehr textbetonte Musik mit Sängerin, was eine extrem atmosphärische, lyrische Doppeldeutigkeit zur Folge hatte. Ein wenig fühlte man sich in die Epoche deutschsprachiger Musik der 80er zurückversetzt, leichte New-Wave-Anleihen, die aber auf elektronische Elemente verzichteten. Das Atmosphärische der Songs hätte am besten in vollkommene Dunkelheit gepasst, eine Voraussetzung, die der Nil-Klub selbstverständlich nicht erfüllen konnte. So bekam man kreiselnde, latent tragische Melodien, die durch Dur-Moll-Wechsel gleichzeitig zerrissen und wieder aneinandergeklebt wurden. Die eine oder andere Komplikation entstand jedoch nicht durch die neuen Songs, die erstmals auf einer Bühne präsentiert wurden, sondern ausgerechnet durch eine technische Pechsträhne, die Sand ab und an aufhielt. Dem Effekt tat das dennoch keinen Abbruch: Die durchweg gut gemachten Songs erzählten Geschichten sowohl auf textlicher als auch musikalischer Ebene. Ein gelungener Einstand.
Im Anschluss konnten der Gitarrist und der Schlagzeuger gleich auf der Bühne bleiben, bestand die Formation Lau doch zumindest zur Hälfte aus denselben Musikern. Musikalisch entfernte man sich nicht allzu sehr, das Herz schlug fest im Rock’n’Roll. Dass der Stil sich mit Sand nicht zu sehr überschnitt, war ein Vorteil. Und auch wenn hier der Text im Zentrum stand, blieb der Einsatz des Gesanges angenehm zurück. Eine sehr angenehme Band, die sich gegen Ende immer mehr zu steigern wusste.
Gab es bisher Musik zum Entspannen und Durchatmen, sollte sich das mit Perhaps schnell ändern: Dem schamanischen Einstieg, der am ehesten The Doors durchklingen ließ, folgte eine fast schon groteske Aneinanderreihung verschiedener Klangstrukturen, die aus einer Schublade in Frank Zappas Wohnung geklaut sein musste. Der Bass drängte sich mit verfrickelten Läufen in den Vordergrund – kein Wunder, ist der Bassist doch der kreative Kopf des Quartetts und für die Songs verantwortlich. Der Sänger der Band war eine optische Verschmelzung von Jesus und Charles Manson, obwohl er sich größtenteils zurückhielt: eine Zeitreise in die 70er, die durch Jazzelemente aufgemischt wurde. Musikalisch war das, was Perhaps boten, kaum noch greifbar. Die Band sparte sich die Pausen zwischen den Songs, sodass alles zu etwas geradezu Sinfonischem wurde, ein Hineinsteigern in Songstrukturen. Eben noch wurden zarte Töne aneinandergereiht, aber bald darauf ging es wieder auf die Beschleunigungsspur. Die Musiker waren nicht mehr zu bremsen. Als hätte man eine Handvoll jazzverrückte Vollblutmusiker in einen Käfig gesteckt und ihnen gesagt, wer aufhört zu spielen, der hat verloren. Sich so etwas auszudenken, ist die erste Verrücktheit, sie aber so konsequent durchzuziehen, die andere: eine Bastelei, die in ihrem großartigen Handwerk kaum zu greifen war, mit einem mathematischen Hang zur Geschwindigkeit, ohne das Steuer loszulassen. Ein beeindruckendes Konzert, das ein geradezu schockiertes Publikum zurückließ. Oliver Dietrich
Oliver Dietrich
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