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Kultur: Mein Liebster!

Ein Abend über Tolstoj und Tolstaja in der Villa Quandt

Stand:

Der Anfang dieser langen Tolstoi-Nacht mit je zwei Autoren der Print- und der Rundfunk-Zunft war ganz anders als das Finale. Hörte man am Mittwoch aus dem Munde der Autorinnen Ursula Keller und Natalja Sharandak zuerst Empörung über den schrecklichen Macho Lew Tolstoj und weibliche Anteilnahme an seiner von ihm unterdrückten, vielfach geschwängerten und letztlich verlassenen Frau, so löste sich am Ende alles in wärmende, in wärmender Liebe auf.

Immer wieder wollte sich der Dichter von allem lösen, was ihn auf seinem Weg religiösen Werdens störte. Besitz, Geld, Urbanität, aber auch Familie, Frau und Kinder. Nach 48 Ehejahren tat er es, heimlich. Die Folge war sein Tod im zweiundachtzigsten Jahr bei einer Bahnstation, auf dem Wege also. Als Sofja, auch schon betagt, davon hörte, schrie sie: „Mein Liebster, mein Teurer kehre zu mir zurück, und wenn es nur zum Verabschieden wäre!“ Floh zum Dorfteich, sich zu ertränken, wurde aber gerettet. Nach seinem Tode widmete sie sich vor allem dem Ordnen des Nachlasses und der Herausgabe seiner Werke. Sie diente ihm auch posthume weiter.

Das ist nun nicht unbedingt der Stoff, aus Sofja Andrejewna Tolstaja eine Emanze zu machen, wie ihre Biografinnen es in der Quandt-Villa anfangs versuchten. Es stimmt, Tolstoj (1828-1910) hielt am tradierten Frauenbild fest, an ihrer dienenden Rolle. Sie aber hat das 20 Jahre lang akzeptiert, gab sogar ihren Widerstand auf, als er nach drei Fehlgeburten auf weiteren Zeugungen bestand. Man muss das nicht so künstlich hochtrieseln: Für die Tolstaja war es gewiss nicht leicht, mit einem depressiven Querkopp klarzukommen. Nimmt man noch hinzu, dass altgediente Eheleute die periodischen Ausbruchsversuche des Partners im Namen der „Selbstverwirklichung“ (mit dem Ich drin) genugsam kennen, alle Lebenserfahrung die besondere Unverträglichkeit von Greisen beim Keifen und Streiten bestätigt – bleibt was?

Nur Liebe bindet, was da immer wieder auseinanderstreben will! Diese bestätigte Ursula Keller den beiden, und schwärmte am Ende von der Zärtlichkeit Tolstoischer Liebesbriefe an Sofja: „Die hätte ich auch mal bekommen wollen!“ Die Botschaft zum 100. Todestag Tolstois: Auch seine Gattin war eine gute Schriftstellerin. Unbehagen entstand an diesem Abend immer dann, wenn der Vergangenheit Gewalt angetan werden konnte: bei jener ungebetenen „Rehabilitation“, beim zwanghaften Überstülpen des aktuellen Frauenbildes auf eine Figur der Geschichte, bei der Wahl einer Optik, die das Trennende (anfangs) mehr betont als die Einheit. Vom religiösen Sein des Paares war fast gar keine Rede. Letztlich fehlte diesem Teil des langen Abends, was ein Feature von Eveline Passet und Raimund Petschner über das heutige Jasnaja Poljana, Geburts- und Wohnort Tolstojs, zu erzählen wusste: Singen, Lachen, Abstand.

Sein Ururenkel führt das staatliche Tolstoi-Museum im gut 800 Seelen-Dorf mit Raffinesse, eine Schule unterrichtet gar nach der Pädagogik des Schreib-Titanen. Ein Denkmal erstaunte die deutschen Radioleute dann doch: Das sollte Lenin sein? „Nein, als Russland eiligst von Stalin gesäubert werden musste, hat man auf dessen Körper einfach Lenins Kopf gesetzt. Soll er hier doch verrotten!“ antwortete ihnen eine Bäuerin lachend. Gerold Paul

Gerold Paul

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