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Kultur: Melancholische Realität

Gonzales verstört und entzückt auf dem Piano in der Schinkelhalle

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An diesem Abend passte vieles nichts zusammen und gerade das machte das Konzert von Gonzales am Mittwochabend zu den beeindruckensten Momenten des Potsdamer Jazzfestivals. Vor dem Konzert stehen die Leute im Foyer der Schinkelhalle und verkürzen sich die Wartezeit mit Sekt und Häppchen. Und das bei einem Gonzales-Gig!? Wer ihn aus seiner Berliner Zeit kennt, hätte ein derartiges Spießertum bei seinem Publikum sicher nie für möglich gehalten. Mit der kreischenden Elektro-Braut Peaches tourte der Kanadier damals durch die dunkelsten Schuppen der Hauptstadt. Auf dem Indy-Label „Kitty-Yo“ veröffentlichte er Alben, die zwischen Genialität und kompletten Wahnsinn schweben, aber „schweben“ ist eigentlich das falsche Wort für das klavierdurchsetzte Elektro-Gepumpe, das sich da teilweise auf den CDs befindet.

An diesem Abend stellt Gonzales sein 2004er Werk „Solo Piano“ erstmalig in Potsdam vor. Seine Entertainer-Qualitäten bei Live-Shows haben sich scheinbar herumgesprochen: Nur wenige Stühle bleiben frei. Auf der von schwarzbetuchten Wänden begrenzten Bühne steht, in Ehrfurcht und vielleicht unterschwelliger Angst auf seinen Meister wartend, ein schwarzes Klavier. Die Situation hat etwas theatralisches. Dieser Eindruck verstärkt sich, als Gonzales im weißen Laborkittel durch den Vorhang schreitet und die ersten Töne von „Gogol“, dem Einstieg auf „Solo Piano“ sanft in die Tasten streichelt.

Was in den nächsten 90 Minuten geschieht, ist ganz sicher Wahnsinn, aber auch eine nicht zu unterschätzende Portion an Genialität. Seine in weiße Handschuhe gekleideten Finger scheinen nur noch die direkte Verbindung mit der weitläufigen Musikabteilung in seinem Kopf aufrechterhalten zu können. Hält er sich im ersten Stück noch penibel genau an seine eigene Vorlage, beginnt er schon bald seine eigenen Themen zu variieren und sich und sein Werk in wilden Improvisationen zu verlieren. Er schaut entschuldigend ins Publikum, während sich seine Hände jeder Kontrolle entziehen. Die 1000 und 1 Melodien in seinem Kopf müssen raus und finden den Weg über den Klangkörper des Pianos. Der Klang ist dabei für klassische oder an High-End-Jazz gewöhnte Ohren sicherlich scheußlich. Die Fingernägel klacken auf den Tasten und in den höheren Lagen ist der Anschlag lauter als der eigentliche Ton. Dazu stampft Gonzales meist noch wild mit den Füßen. Für seine Klavierlehrerin muss er ein Albtraum gewesen sein. Ständig veränderte er die Stücke von Dur nach Moll, erzählt er dem Publikum und verdeutlicht es an einigen Beispielen („Happy Birthday“, „Bruder Jakob“). Er könne mit dem „falschen Opitmismus“ von Dur nichts anfangen. Da bevorzuge er doch die „melancholische Realität“ des Moll-Geschlechts.

Danach bezieht er das Publikum als summenden Hintergrundgesang in seine „Experimente in Räumen mit vielen Menschen“ ein. Das erklärt zumindest den Kittel. Minutenlang improvisiert er über diesem voluminösen Teppich und wieder schleichen sich Melodien von Mozart bis zur Marseillaise ein. Zum Abschluss zerhackt er noch das aus dem Zuschauerraum gewünschte „Eye of the tiger“ und setzt es wie ein abstraktes Bild wieder zusammen. Schelmenhaft winkt er noch einmal von der Bühne und lässt das verstört-entzückte Publikum zurück.

Christoph Henkel

Christoph Henkel

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