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Kultur: Menschliche Trauer, himmlische Hoffnung „Ein deutsches Requiem“ bei der Vocalise

Ein Requiem, welches „deutsch“ zwar im Namen hat, national aber nicht sein wollte? Ein Requiem, das zwar die Bibel ausgiebig zitiert, aber Christus und die mit ihm offenbarte Trinität bewusst herauslässt, gar eine „säkularisierte Religiosität“ favorisiert?

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Ein Requiem, welches „deutsch“ zwar im Namen hat, national aber nicht sein wollte? Ein Requiem, das zwar die Bibel ausgiebig zitiert, aber Christus und die mit ihm offenbarte Trinität bewusst herauslässt, gar eine „säkularisierte Religiosität“ favorisiert? Johannes Brahms hat seinen Landsleuten mit dem Opus 45 (1868 oder 1869) einen sehr nachhaltigen Brocken hingeworfen: „Ein Deutsches Requiem“ wollte die Kirche zum Konzertsaal machen, den Konzertsaal aber „zur Gemeinde“ des einen Gottes, welchen er meinte. „Nichtreligiöse Kunstreligion“ nannte er das. Tatsächlich begeistert dieses Werk seitdem Besucher mit und ohne Glauben allein durch seine musikalische, sprachliche und emotionale Substanz.

Der Potsdamer Oratorienchor führte es seit 1990 unter Leitung von Matthias Jacob immer wieder mal auf, und mochten die Kritiken auch unterschiedlich ausfallen, so war Brahms ein volles Haus doch immer sicher. Auch am Sonnabend, als dieses aus Bibelzitaten des Alten und Neuen Testamentes komponierte Opus für Sopran, Bass und vierstimmigen Chor mit wohltemperierten Brandenburgern Symphonikern in der Friedenskirche erklang: Schlangen an der Kasse, obwohl sämtliche Karten für diesen „Vocalise“-Abend 2005 längst verkauft, gespannte Erwartung in den heiligen Hallen des Kirchenschiffes, lang anhaltender Beifall für eine kompakte, schlanke, ganz dem kontemplativem Geist des Werkes folgenden Interpretation. Ein Geist, ein Guss, romantischer Sinn – dies griff wohl vielen direkt ans Herz. Tags drauf wurde das Konzert in Sachsenhausen wiederholt.

Verpflichtete man mit Katherina Müller (Sopran) und dem gediegenen Bariton Matthias Weichert diesmal auch zwei vorzügliche Solisten, so lag doch der Schwerpunkt der Aufführung „naturgemäß“ in den weitläufigen und anspruchsvollen Chorpassagen. Hier ist viel Lob zu zollen: Von „Selig sind, die das Leid tragen“ bis zu den klanglich sehr ausgewogenen Finalteil, welcher nun die „in dem Herrn“ Sterbenden selig preist, hatte man es mit einer fast professionellen Leistung des durch viele Prüfungen gegangenen Chorus zu tun: Sichere Stimmführung von Alpha bis Omega, ausdrucksvolle Interpretationen in den raffinierten Komplexionen des Mittelteils, Innigkeit und Schönheit auch bei den fugalen Strukturen, fast keine Intonationsprobleme. Der Oratorienchor hatte seinen Brahms verstanden, man war topfit.

Matthias Jacob vermittelte dem Publikum bei zurückhaltendem Einsatz des Brandenburger Orchesters zwar keine Offenbarung, aber ein tiefes und auch nachwirkendes Erlebnis. Er folgte dem Hamburger Komponisten in spürbar abgedämpfter Atmosphäre: Keine Opulenzen, Reduktion gar in den wenigen Tutti-Passagen („Hölle, wo ist dein Sieg“), dafür ein gepflegter Umgang mit Gefühls-Nuancen zwischen menschlicher Trauer und himmlischer Hoffnung. Solche Wirkung zielt auf das bei Deutschen gelebte Gemüt. Chor und Solisten harmonierten weitgehend unisono. Katherina Müller sang mit heller, sehr klarer Stimme in direkter Interaktion mit dem Publikum, der Bariton gab seine Soli mit staunenswerter Leichtigkeit fast rezitativ. Alles verständlich, luzid, schön im siebengeteilten Werk. Behutsamkeit statt Pathos dort, wo Sterblichkeit Trauer erzeugt, verhaltener, kurzer Jubel beim Gotteslob, nachdem „euch ein Geheimnis“ gesagt: Setzt man ein Maß, so dankt es die Kunst mit Gewissheit.

Der Rest ist Rezeption. Wo der Musikfreund Brahms nur genießt, muss ein gelernter Seelenhirte („Herr, lehre doch mich“) auch heutzutage grübeln: Gotteslob ohne den Heiland, zweifelhafte „Versöhnungs“-Gesten an Juden- und Christentum – und trotzdem der Schönheit so viel? Das ist doch der theologische Knackpunkt seit 2000 Jahren. Nun, die Kunst setzt, der Mensch möge antworten. Gerold Paul

Gerold Paul

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