Kultur: Mit allen Facetten
„Andy Miles & more“ im Nikolaisaal
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Behaupten lässt sich vieles. Zum Beispiel, dass ein Klarinettist sowohl in der Jazzszene als auch auf dem klassischen Konzertpodium zu Hause ist. Andy Miles eilt solcher Ruf voraus. Mit Zwölf gründet er seine erste Jazzband, studiert später klassische Klarinette. Mit 26 ist er bereits Soloklarinettist der Hamburger Philharmoniker, seit 1992 in gleicher Position im WDR-Sinfonieorchester. Frei nach Goethe ließe sich sagen, dass er den Ernst des (klassischen) Lebens vom Vater ererbt habe, vom Mütterchen dagegen die (jazzige) Frohnatur. Glücklich, wer solchermaßen grenzüberschreitend wirken kann.
Wie glaubhaft, davon gab das Saisonfinale der „Klassik am Sonntag“-Reihe im Nikolaisaal heftig umjubelte Kunde. Es steht unter dem Motto „Miles & more“ und stellt das bläserische Kultinstrument des Zeitalters der Empfindsamkeit und der Romantik in den Mittelpunkt aller klanglichen Offenbarungen, die Andy Miles, die Brandenburger Symphoniker und Chefdirigent Michael Helmrath als hinreißende Spielgemeinschaft verkünden. „Unglaublich, was die Klarinette alles kann: singen, von Liebeswonnen erzählen, jubeln, schreien, kokettieren, schmachten“, macht Moderator Clemens Goldberg die Zuhörer neugierig. Jede einzelne Facette liebt und beherrscht Andy Miles aus dem Effeff.
Zunächst die Romantik-Variante, in Notengestalt des Carl Maria von Weberschen Es-Dur-Concertinos op. 26. Bereits hier nimmt der Zwei-Meter-Mann Andy Miles nicht nur körpergrößenmäßig, sondern auch klanglich sehr für sich ein. Weich sein Ansatz, singend und süß sein Ton – ein Lyriker der Edelklasse. Allmählich werden aus lieblichen Legatolinien virtuose Keckereien, mit Skalen, Trillern und sonstigem Zierrat reich ausgestattet. Manches davon erinnert an des Komponisten „Freischütz“-Ouvertüre, die eingangs erklingt. Unheimlich bedrohlich, tempobreit und spannungsreich lässt Michael Helmrath sie als ein Minidrama musizieren. In Webers „Oberon“-Ouvertüre dagegen spult sich das Operngeschehen wie im Zeitraffer aufs Quicklebendigste ab. Im Orchester haben Klarinette (Stefan Vogt) und Horn (Thomas Hoffmann) reichlich zu tun.
Nach der Pause dann die Jazz-Variante. Da ist eine andere Art der Tonerzeugung und -behandlung gefragt, freieres Rhythmusempfinden, Improvisationsvermögen und die Kunst, Musik pulsieren, schmachten, gleiten und schwingen zu lassen - kurzum: Feeling. Zwischendurch ein Bonmotaustausch zwischen Solist und Moderator über unterschiedliches Spielverhalten. „Nehm’se mal dem Klassiker die Noten weg!“ – „Stelln’se mal dem Jazzer Noten hin!“ Was für ein blasphemischer Gedanke. Obwohl: die von Astor Piazzollas „Oblivion/Nightclub 1960“ stehen sicherheitshalber parat, werden von Miles aber kaum eines Blickes gewürdigt. Vom Orchester schon, das sich nun als fast perfekte Big Band und als unaufhörlicher „Gesprächspartner“ erweist. Wahrlich atemberaubend vollzieht sich der Dialog in „Metamorphosis“ für Klarinette, Jazzband und Orchester von Jorge Calandrelli, das auf Carl Philipp Emanuel Bachs Solfeggien beruht, gesanglichen Übungstücken von Tonfolgen. Exorbitante Intervallsprünge und Blasartistik sind den barocken Noten abverlangt, solistische Freizügigkeit und Swing den Jazzverwandlungen. Auch im Concerto for Clarinet and Orchestra von Artie Shaw (1910-2004) hat jeder sein beifallsbelohntes Solo, geht immer wieder die Post ab.
More, pardon: mehr geht an diesem Sonntagnachmittag wirklich nicht. Beim Beifall schon. Peter Buske
Peter Buske
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