Kultur: Mit der Heimat an den Sohlen
arche-Vortrag über Johannes Bobrowski
Stand:
Nimmt man denn das Vaterland an den Schuhsohlen mit, wenn man die Heimat verlässt, das Haus seiner Geburt, das ererbte Land der Väter? Die gar nicht rhetorische Frage nach Heimat und Vaterland durchzieht das gesamte Werk des Dichters Johannes Bobrowski. Er wuchs am Ende des Ersten Weltkrieges am Memelstrom auf, zog 1941 als Eroberer in jenes Land, welches er so sehr bewunderte, wie seine Vorväter schon, sühnte in russischen Kohleminen die Schuld der Angreifer. Am Ende seiner Gefangenschaft, 1949, gab es kein Ostpreußen mehr. Keine Heimat. Er lebte als Lektor und Schriftsteller bis zu seinem Tod 1965 in Ostberlin, doch die „sarmatischen“ Gefilde zwischen seinem Geburtsort Tilsit und Königsberg blieb ihm an den Sohlen haften: „Immer zu benennen: den Baum, den Vogel im Flug, den rötlichen Fels, wo der Strom zieht, grün, und den Fisch im weißen Rauch, wenn es dunkelt über die Wälder herab“, schrieb er in einem Gedicht.
Am Dienstagabend beschäftigte sich Friedrich Hagemann, alten Potsdamern noch als Mitarbeiter der Brandenburgischen Landes- und Hochschulbibliothek bekannt, in einem so schönen wie klugen Vortrag mit dem Heimatbegriff von Johannes Bobrowski. Der „arche“, immerfort Neues ins städtische Bewusstsein schaufelnd, mag der 40. Todestag des Dichters vor Augen gestanden haben, vielleicht auch die aktuelle Diskussion um ein Vertriebenen-Zentrum in Polen.
Weil Bobrowski unermüdlich benannte, was sich andere aus ideologischer Rücksicht verboten, war er in der DDR Geheimtipp und Marginalie zugleich. Westdeutsches Lob als „Naturlyriker" empfand er als Abwertung seiner Intention. So blieb ihm hüben und drüben versagt, was er sich als Wirkung am meisten wünschte: „wissende Erinnerung“ an jenen Erdstrich, welchen der Donnergeist Perun in heidnischen Zeiten beherrschte. Sarmatien, das wusste schon Herodot, reichte von der Weichsel bis hin zum Schwarzen Meer.
Was aber genau klebt dem Entwurzelten an den Schuhsohlen? Erinnerungen an „Litauische Claviere“, an „Boehlendorff“ und „Mäusefest“, an den Kulthügel des Perun, Szenen aus der zum „Schattenland“ gewordenen Heimat, das Paradies, wie er meinte. Einerseits trug der Tilsiter an den „Schattenfabeln von den Verschuldungen“ (gemeint sind Erinnerungsschatten und Sagas) der Vergangenheit, andererseits, so der Referent, sei es ihm darum gegangen, „die Heimat ohne Besitzansprüche neu zu entdecken“.
Nur, wie sollte das gehen, trotz Sühne und christlich angemahnter Versöhnung? Heimat meint doch immer Besitz als die „Besetzung“ eines Ortes. Es geht nur mit Poesie und ihrer „Vergesslichen Sprache“: „Herrufen“, wo man (damals) nicht hingehen konnte, die Landschaft wie bei den alten Griechen metaphorisieren, um sie „exemplarisch“ abschreiten zu können, sie „immer benennen“. Nur so bleibt sie real als ein „Ort, wo wir leben“. Damit entfällt auch der Drang, sie „besitzen“ zu müssen. Das klingt zwar etwas akrobatisch, lässt sich aber im Werk des an Hamann und Klopstock geschulten Ostpreußen nachweisen, wie in der „arche“ mit kolossaler Wirkung geschehen. Er bestand zeitlebens auf einer „Rekultivierung unserer östlichen Bewusstseins-Hälfte“.
Dieser ideologielose Begriff schließt alles auf, und man wundert sich nicht, warum bei jenem anderen Bobrowski-Vortrag im Juni (Nikolaikirche) derselbe Geist so frisch und belebend blies. Die Vertreibung aus dem Paradies hat im Bewusstsein sichere Spuren hinterlassen, abzulesen an den eigenen Schuhsohlen. Sie legen auch die Fährte für den Rückweg. Deshalb ist es gut, jene „Heimat“ immer bei sich zu haben. Welch ein Verdienst, auf so glänzende Art belehrt worden zu sein!
Dem Referenten darf man bescheinigen, Bobrowski fern von jeder Ideologie gelesen und dargestellt zu haben, berührend also, warm und mit poetischer Wirkung, wie sie der Autor zu Lebzeiten so schmerzlich vermisste. Gerold Paul
Gerold Paul
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