
© Göran Gnaudschun
Kultur: Mit der Hülsenfrucht zur Wahrheit
Am Hans Otto Theater begeistert die Inszenierung „Lilly oder Die Prinzessin auf der Erbse“
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Hätten die Erwachsenen in ihrer Kindheit mehr Märchen gelesen, so wären sie nie zu dem geworden, was sie heute sind. Sie hätten dann auch kein Problem gehabt, die Wahrheit von der Lüge zu unterscheiden, das Original von der Kopie, das Echte von der Fälschung. Den dänischen Erzähler Hans Christian Andersen (1805-1875) hat diese tiefgehende Frage offenbar sehr umgetrieben, in „Des Kaisers neue Kleider“ erzählt er geradezu staatsgefährdend davon. Auch seine Geschichte von der „Prinzessin auf der Erbse“ (1835) behandelt diese Frage.
Hier ist ein junger Königssohn auf der Suche nach der Wahren, doch alle Kandidatinnen schickt er nach Hause. Er erkennt, dass sie sich alle verstellen, um ihm zu gefallen. Als dann ein tropfnasses Mädchen Unterschlupf im Schloss sucht und behauptet, eine Prinzessin zu sein, glaubt ihr keiner, denn so wie sie sieht nun wahrlich eine Königstochter nicht aus! Es bedarf also einer Probe, um die Wahrheit, das Wahre, herauszufinden. In Andersens Geschichte, darin eher der Adel als das nasse schmutzige Mädel auf den Prüfstand steht, übernimmt die misstrauische Prinzenmutter diese Aufgabe, man erinnere sich, es geht um das Ding mit der Erbse. In der hoch zu lobenden Inszenierung des Hans Otto Theaters, die am Donnerstag Premiere feierte, ist dieser Part dem verschnupften Zauberer Theobald übergeben, einer von fünf Darstellern in der gleichnamigen Spielfassung von Carolin Jelden. Die Autorin ist auch sonst ziemlich frei mit dem Stoff umgegangen, hat Figuren und Situationen hinzugedacht, die wirken, wie von Andersen geschrieben. Das junge Premierenpublikum am Donnerstagvormittag kannte nicht nur das Original, es wusste auch ganz genau, wer da auf der Bühne echt und wer falsch war, etwa die zimperliche Tanz-Prinzessin. Eben, Kinder können das noch!
Weil es so schön ist und so praktikabel eingesetzt, kommt an dieser Stelle das Bühnenbild (Tanja Hofmann) zuerst. Man trifft die künftige Erbs-Prinzessin Lilly (Nora Decker) mit ihrer Gouvernante Albertine (Claudia Lietz) zuerst in Waldes Regentrübe. Grünes Licht von oben, die Bäume sind im Wortsinn Regenschirme, was dem Publikum sofort ein „Aah“ abrang. Die folgenden Bilder, der Empfangsraum im Schloss oder Theos Zauberstube, werden einander zuaddiert, sodass eines im anderen aufgeht. Gestaltet ist das alles sehr kindergerecht, sehr farbig, toll.
Um dem Zeitgeist Futter zu geben, hat die Autorin ihrer Lilly sehr viel Selbstbewusstsein mitgegeben, statt Tanzen und Benehmen zu lernen, will sie lieber am Fechtwettstreit teilnehmen, was der Papa ihr unbekannterweise verbietet. Rollenverweigerung also. Nicht genug damit, auch das Thema Toleranz musste in Gestalt des Dieners Joshi noch mit rein. Als raue Räuber sie überfallen, kriegt ihr emanzisches Ego nun den ersten Knacks, und auch im Schloss dann glaubt man ihr nicht. Hier reiht die szenische Fantasie Edelszene herzenswarm an Edelszene: wenn Theobald (Julian Mehne) verrotzt mit dem eingebildeten Sekretarius (David Kramer) streitet, bis die Mauern wackeln, oder Lilly mit dem Schlosswächter (Anton Spieker mit Regenschirm-Helm) ringt. Jede Figur ist sparsam, doch überzeugend gesetzt, es macht Freude, ihrem alerten oder gar verrückten Spiel zuzuschauen, besonders in der Erbs-Matratzen-Szene, welche die Echtheit von Lilly ans Licht und zur Königin (Claudia Lietz) bringt.
Diese wurde vom Kinds-Publikum sofort mit „Äähh“ begrüßt, weil als „falsch“-herzig erkannt. Die Sympathien blieben ja immer bei Lilly. Fehlt Prinz Lucas, noch mal Anton Spieker. Er hat, wie alle Märchen-Infanten, den schweren Part auf der Bühne, weil er immer so edel sein muss. Aber lieb war er, besonders in der Augenszene, wo sich das gegenseitige Feuer der Liebe entzündet. Zuletzt scheint endlich die Sonne, Theo kann wieder zaubern, alles wird gut. Tosender Beifall, Zugabe!-Rufe nach zwei wunderbar belebten Theaterstunden. Gerold Paul
Wieder vom 24. bis 28. November, jeweils 10 Uhr, im Hans Otto Theater in der Schiffbauergasse.
Gerold Paul
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