Kultur: Mit dickem Trauerrand
Neues Kammerorchester eröffnete in der Erlöserkirche seine Spielzeit mit „Metamorphosen“
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Neues Kammerorchester eröffnete in der Erlöserkirche seine Spielzeit mit „Metamorphosen“ Von Sonja Lenz Tragisch, dieser Abend. Da kommen die Musiker des Neuen Kammerorchesters Potsdam froh gelaunt aus der Sommerpause zurück und finden schwerblütige Novembermusik auf ihren Notenpulten vor. Hier liegt Beethovens unglücklicher Egmont, dort weint sich Richard Strauss in seinen späten „Metamorphosen“ aus. Und als Krönung: die „tragische“ Sinfonie von Franz Schubert. Warum das Programm zur Saisoneröffnung in der Erlöserkirche einen so dicken Trauerrand tragen muss, bleibt ein Rätsel. Egal, die Musiker machen das Beste daraus. Sie liefern eine besinnliche Herbsteinstimmung auf hohem Niveau. Der Notenblätterwald rauscht unter dem Motto „Metamorphosen – zwischen Sturm und Trauer“. Viele neue Gesichter blicken im Altarraum über die Pulte. Der israelische Dirigent Ud Joffe, der seit sechs Jahren die Kantorei und die Musik an der Erlöserkirche leitet, schweißt alte und junge Mitglieder seines Orchesters mit viel Fingerspitzengefühl zu einer Einheit zusammen. Als freie Orchesterinitiative, auch frei von Subventionen, engagiert sich das Neue Kammerorchester Potsdam. In den drei Jahren seit der Gründung sind die jungen Musiker immer erfolgreicher und selbstbewusster aufgetreten. In dieser Saison sind sie erstmals auch als Kulturbotschafter der Landeshauptstadt unterwegs. Franz Schubert steht im Mittelpunkt der Spielzeit. Am Eröffnungsabend ist es trotzdem Beethoven, der die roten Programmfäden zusammenhält. Ohne ihn hätten die beiden Werke von Schubert und Strauss nicht entstehen können. Mit schweren Schritten kommt Beethovens „Egmont“-Ouvertüre daher. Bleigewichte hängen an jedem Ton. Goethes Freiheitskämpfer hat keine Chance. Er ist von Anfang an zum Untergang verurteilt. Daran lässt Ud Joffe keinen Zweifel. Der niederländische Graf kann noch so entschlossen gegen die spanischen Unterdrücker vorgehen. Schon im wuchtigen Pathos des Eröffnungsakkords schwingt das Fallbeil des Henkers mit. Der Dirigent wählt breite Tempi und einen erdigen Klang. Holzbläsergesänge aus beschwerter Seele stehen neben gefährlich grollenden Blechbläserakzenten. Herrschsüchtige Bläser fallen über sanftmütige Streicher her. Selbst der im Triumph verklärte Heldentod in Beethovens Schauspielmusik wirkt an diesem Abend alles andere als siegreich. Nach dem Applaus wird der Trauermarsch aus Beethovens „Eroica“ wehmütig herbeizitiert. Richard Strauss stößt in seinen „Metamorphosen“ ein Fenster in die Vergangenheit auf. Mit 81 Jahren beschwört der Komponist eine vergangene Epoche, eine untergegangene Kulturnation. 1945 hat er sein Alters-Meisterwerk geschrieben. Deutschland lag in Trümmern. Gebrochen war die Tradition der Dichter und Denker. Richard Strauss spätromantischer Kompositionsstil war sowieso längst zum Anachronismus geworden. Das war dem alten Mann schmerzlich bewusst. Resigniert, mit bitterer Süße, ließ er seinen Blick durch entlegene Klangregionen schweifen. Nicht für ein Orchester, sondern für 23 Solostreicher hat Strauss seine Komposition geschrieben. Sie stellt das Ensemblespiel auf einen gefährlichen Prüfstand. Die Musiker des Neuen Kammerorchesters nehmen die Herausforderung an. Sie wecken das komplexe Stimmengeflecht zu filigranem Leben. Jeder klagt für sich und findet doch seinen Platz im allgemeinen Wehgesang. Beethovens Geist schwebt auch deutlich über Franz Schuberts vierter Sinfonie. Die „Tragische“ steht in c-moll, in der Tonart von Beethovens 5. Sinfonie. Wollte sich der 19 Jahre junge Komponist an der schon damals berühmten Sinfonie messen, reiben, weiterentwickeln? Ud Joffes Kammerorchester lässt keinen Zweifel an Schuberts Beethoven-Verehrung. Ungestüm, draufgängerisch, aufbrausend spielen die Musiker das Jugendwerk. Sie präsentieren Schubert als temperamentvollen, quirligen Feuerkopf. Sie streichen mit jugendlichem Schwung alles Biedermeierliche. So einen „tragischen“ Abend lässt sich das Publikum in der Erlöserkirche gern gefallen.
Sonja Lenz
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