Kultur: Mit einer Art Freibrief Ensemble Resonanz und die Hamburger Sinfonien
Wenn im 18. Jahrhundert vom „großen Bach“ gesprochen wurde, war nicht Johann Sebastian gemeint, sondern sein Sohn Carl Philipp Emanuel.
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Wenn im 18. Jahrhundert vom „großen Bach“ gesprochen wurde, war nicht Johann Sebastian gemeint, sondern sein Sohn Carl Philipp Emanuel. Er war einer der Hauptvertreter des Empfindsamen Stils und stand 28 Jahre lang als Cembalist und Kammermusiker im Dienst Friedrichs des Großen, ehe er für zwei Jahrzehnte als städtischer Musikdirektor in Hamburg wirkte. Am 8. März jährte sich der Geburtstag von Carl Philipp Emanuel Bach zum 300. Mal. Im Jubiläumsjahr stellen die PNN regelmäßig Neuerscheinungen mit Werken des „großen Bachs“ vor.
Wie ein Kompliment mag Ricardo Minasis Einschätzung nicht gerade klingen: „Die sechs Sinfonien, die Bach für van Swieten komponiert hat, sind absolut verrückt.“ Doch Minasi will das sehr wohl als Kompliment verstanden wissen. Wer das nicht glauben mag, dem sei die Einspielung von Carl Philipp Emanuel Bachs sechs sogenannten Hamburger Sinfonien empfohlen, die Ricardo Minasi zusammen mit dem Ensemble Resonanz beim Hamburger Label Es-Dur veröffentlicht hat. Aber Achtung! C.P.E. Bach ist hier als – Pardon– wilde Sau zu erleben. Und als solche in der Interpretation von Minasi und dem Ensemble Resonanz als reinster Hochgenuss.
Gottfried van Swieten, begeisterter Musikliebhaber und seit 1770 Gesandter des österreichischen Kaiserhauses in Berlin, hatte schnell das große Talent in dem Cembalisten und Kammermusiker Friedrichs II. erkannt und entsprechende Kompositionsaufträge an C.P.E. Bach vergeben. Die einzige Maßgabe bestand darin, keinerlei Rücksicht auf die Umsetzung besagter Kompositionen auf der Bühne zu nehmen. Sprich: Der Komponist sollte sich hier nicht nach dem Können der Musiker richten, sondern frei von der Leber weg schreiben. Denn van Swieten wusste, dass Bach bei Auftragskompositionen allzu oft Kompromisse eingehen musste.
Bach nutzte diese Art Freibrief und komponierte mit großer Lust, großem Schwung und Überraschungen, denen man fast schon einen leichten Hang zur Übertreibung attestieren möchte. Doch bei all dem Rebellischen, das in diesen sechs Sinfonien im Übermaß zu erleben ist, blieb Bach doch immer der Tradition verpflichtet und gleichzeitig auch dem Grundsatz, dass man das Publikum ruhig ausgiebig fordern, dabei aber nicht ständig überfordern muss. So sind die Hamburger Sinfonien ein Wechselbad der Gefühle und musikalischen Wendungen, gelegentlich fast schon mit dem Sprung in einen Gebirgsbach zu vergleichen.
Das Ensemble Resonanz hat sich diesen Sinfonien mit der einzig überzeugenden Einstellung angenommen: kompromisslos. Rasant und punktgenau die Tempi, nicht selten am Rande der Raserei. Herrlich frisch und erfrischend der stramme Ton und die perlenden Intonation. Ricardo Minasi und seine Musiker packen die – Pardon – wilde Sau bei den Ohren und tanzen beschwingt mit ihr. Über die sechs Sinfonie sagt Minasi, dass es wohl keine Musik gibt, „bei der man so rein und klar, so kristallin, so apollinisch und so inspiriert spielen muss“. Sehr gut erkannt und perfekt umgesetzt. Dirk Becker
Dirk Becker
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