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So viele Ichs. Franziska Melzer (M.) als Orlando in der Reithalle.

©  Marc Brinkmeier

Kultur: Mit geradezu gespenstischer Leichtigkeit

Virginia Woolfs Klassiker „Orlando“ auf der Bühne im „nachtboulevard“

Stand:

Was ist der Mensch ganz drinnen, Kosmos, Abgrund, Männlein, Weiblein, alles zusammen? Auf eine liebevolle und völlig unaufdringliche Weise untersucht das Hans Otto Theater diese lebensbestimmende Frage derzeit mit einer fabelhaften Produktion in der Reihe „nachtboulevard“. Zuerst einmal ist zu begrüßen, wenn eine Bühne nach den Gründen des menschlichen Seins forscht, nicht nur nach dem Alltagsfaktor mit dem Ettikett „Fun“. Vom Grunde her ist das ja ihre Pflicht. Dass man mit Virginia Woolfs wundersamem Fantasiegebilde „Orlando“ zudem auch noch den Nerv der Zeit getroffen hat, ist hoch zu loben.

Der 1928 erschienene Roman war ja auch ein Sendbote aus dem tiefsten Inneren der manisch-depressiven Autorin, die 1941, mit knapp 60 Jahren, den Freitod im Wasser suchte. Heutzutage zählt man sie nicht nur zur klassischen Moderne der Literatur, auch die Emanzipation hat sich ihrer bemächtigt. Nicht ganz zu Unrecht, denn in Leben und Werk der britischen Autorin spiegeln sich die absichtsvollsten Trends der Gegenwart ganz exemplarisch wider: Rollenspiel, Vervielfältigung des Ich, Bisexualität, Emanzipationsdrang und – Bedrängnis, Verwirrung der Persönlichkeit. All das findet man auch im „Orlando“. Mag dieser wunderbare Text nun an die boshaften Rollenspiele in Laclos „Gefährliche Liebschaften“ erinnern, mochte es eine Liebeserklärung an die zeitweilige Gespielin und Freundin Vita Sackvill-West gewesen sein, zuerst ist dieses alerte Menschending Orlando Virginia Woolf selbst. Hier nimmt sie sich alle Freiheit, die Welten in sich zu erproben, als Mann und/oder als Frau, als Weltfahrer oder Schriftstellerin, als Krieger oder Liebhaberin quer durch Europa und über einen Zeitraum von gut 350 Jahren. Viele Ichs kommen dabei zutage, keines ist fest genug, sie zu halten, ihre bipolare Störung verhinderte das.

Was hier so ernst und tragisch klingt, fand unter der kollektiven Regie von Jana Findeklee, Franziska Melzer und Joki Tewes in der Reithalle am Wochenende zu einer geradezu gespenstischen Leichtigkeit. Man bekam es mit einer rundum geglückten Multimedia-Produktion zu tun: Filmspots zeigten eine tödlich endende Autofahrt im Schneegestöber, Landschaften in England oder Figuren, die zugleich auf der Bühne agierten. Marc Eisenschink komponierte nicht nur die Songs für die fünfundsiebzigminütige Inszenierung, er gab auch fantasievolle Zwittergebilde aus Musik und elektronischem Geräusch als akustische Kulisse dazu. Franziska Melzer spielte die tausend Gesichter dieses Orlando im Kostüm der elisabethanischen Zeit, unterstützt von den Pagen Joki Tewes und Jana Findeklee, die zugleich für Kostüme, Bühnenbild und die Videos zuständig waren. Ob sie nun auf der Sänfte hockten, während Orlando mit seinem angemalten Schnurrbärtchen darinnen monologisierte, oder als Begleiter beim Eislauf, sie waren in jeder Lebenslage aktiv und dabei, ganz vorbildlich.

Franziska Melzer hatte die Aufgabe, einen bandwurmlangen Prosatext in theatralische Bilder und Aktionen zu modeln. Anfangs schien das alles ein wenig beliebig, doch fand sie sich drein, wie das vielköpfige Publikum auch. Bald jedoch fand sie Gefallen am spielerischen Umgang mit so vielen männlich-weiblichen Rollen; dass es eigentlich nur immer eine war, kam nicht so heraus. Mal ernsthaft, mal betont chargierend, mal für einen Song aus der Handlung steigend – gelegentlich war sie etwas mehr Franziska Melzer als ein Orlando. Ihre Ausstrahlung und ihre schönklare Singstimme machten vieles wett. Dergestalt segelte man nun von Konstantinopel bis nach Kap Hoorn, erkundete weibliche und männliche Seelenanteile, um – den Schnurrbart abgewischt – ganz feminin mit einem langen weißen Kleid im Heute anzukommen. War damit die Grundfrage des Romans nach Orlandos/Woolfs geschlechtlicher Identität gelöst, so ganz ohne Abgrund und Krise? Offenbar, man wollte ja schließlich keine Tragödie bringen. Gerold Paul

Gerold Paul

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