Selig-Konzert im Nikolaisaal: Mit Herznarbengarantie
Selig und das Filmorchester Babelsberg boten im Nikolaisaal ein etwas anderes Rockkonzert.
Stand:
Dass der ausverkaufte Nikolaisaal nicht unbedingt für Rockkonzerte taugt, darf nicht unerwähnt bleiben: ein Sitzplatzkonzert, mit ausgedehnter Pause zwischendrin – das Konzept mag für Klassik gut funktionieren, bei Selig bleibt das Vergnügen dann doch irgendwie auf der Strecke, da gibt es nichts schönzureden. Der frenetische Jubel nach dem Opener „Schau schau“ hatte jedoch die Ehrlichkeit eines Rockpublikums, und das war gleichsam beruhigend wie aufwühlend.
Ein Konzert mit Übersetzung in Gebärdensprache ist sicherlich eine ambitionierte Sache – aber kann man die lyrischen Texte von Selig losgelöst von der Musik betrachten? Das geht schon, wenn man es wie Laura M. Schwengber macht, eine Tänzerin und Gebärdendolmetscherin: Man tanzt die Musik einfach mit. Auch wenn Musik per se an das Gehör appelliert, verführte Schwengber mit ihrem Robotertanz regelrecht dazu, sich die Ohren zuzuhalten. Keine schlechte Leistung, auf einem Rockkonzert immerhin. Der Gebärdentanz geriet so zu einem theatralischen Akt, der das Auge beanspruchte.
Sänger Jan Plewka, mittlerweile bekannter für seine Rio-Reiser-Adaptionen als für Selig, kam mit Schiebermütze und Arbeiterhemd seinem Vorbild recht nahe. Die Begleitung durch das Filmorchester Babelsberg war eine souveräne Sache, so souverän, dass Selig den Keyboarder Jan Malte Neumann durchaus zu Hause hätte lassen können. Das nahm teilweise absurde Züge an: Zum Song „Traumfenster“ spielte der Keyboarder eine synthetische Cello-Begleitung, während ein komplettes Orchester im dunklen Hintergrund als Dekoration zurückgelassen wurde.
Seligs Musik lebt von der Lyrik und der molligen Tragik – ohne die markante Stimme Plewkas würde die Band ziemlich alt aussehen. Der Sänger machte seine Sache gut. Und dass sich das Orchester gerade beim vor Empathie strotzenden Selig-Volltreffer „Ewigkeit“ zurückzog, wertete den Song sogar auf. Die tragische Liebeserklärung transportiert ja eine derart magnetische Schönheit, dass es einen frösteln ließ. Und trotzdem traute sich keiner aus dem Publikum, aufzuspringen und ein Feuerzeug zu zücken, obwohl die angemessenste Reaktion wohl das Herausreißen der stimmungsbremsenden Sitze gewesen wäre – stattdessen wird im Nikolaisaal lieber im Takt geklatscht.
Was allerdings aufrichtig faszinierend ist, ist der Anknüpfungspunkt von Selig an die 1990er-Jahre: Kaum eine Band konnte sich derart im Fahrwasser der Grunge-Welle behaupten wie die Hamburger. Selig packen einen im Genick und katapultieren uns zurück – eine authentische musikalische Frischzellentherapie, die besonders beim Song „Ist es wichtig“ gelingt: Selig sind immer noch die poetischen Kinder des Grunge. Das ist nicht retro, sondern Zeitgeist.
Und – ach, schluchz – so pathetisch: Als Plewka beim Song „Ich fall in deine Arme“ falsch einsetzt und Band samt Orchester abbrechen müssen, dann fällt er Dirigent Scott Lawton tatsächlich in die Arme; das ist dem Publikum einen Zwischenapplaus wert. Und als „Ohne dich“ kommt – immerhin ein Hit aus dem Jahr 1994 – werden reihenweise Arme um Schultern gelegt und mitgesungen. Das ist dann Selig, wie man sie kennt: eine emotionale Vergiftung mit Herznarbengarantie. Brutal und gut. So einen frenetischen Applaus wie nach dem Konzert hat der Nikolaisaal garantiert noch nicht erlebt.
Oliver Dietrich
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