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Kultur: Mit Muße zur Muse

Potsdams erster musikalischer Stadtführer: Die Musen tanzen Hand in Hand

Stand:

Potsdams erster musikalischer Stadtführer: Die Musen tanzen Hand in Hand „Sie brauchen sich nicht zu beeilen“, sagte ich in Potsdam zu dem Droschkenkutscher. ,Wir haben Zeit“. Der Droschkenkutscher drehte sich auf dem Sitz um und sah mich an; er war ein alter Mann und lachte über das ganze Gesicht: So etwas, sagte er, so etwas hat mir in meinem ganzen Leben noch kein Mensch gesagt. Nun fahre ich hier in Potsdam schon vierzig Jahre, aber immer soll es schnell gehen, weil die Herrschaften immer mit dem Zug um 5 Uhr 45 zurück wollen.“ Nicht zufällig stimmt die Autorin Christina Siegfried in ihrem Stadtführer „Die Musen tanzen Hand in Hand“ mit Victor Auburtins Episode aus dem „Lob der Langsamkeit“ ein. Auch wenn sie sich nicht mit der Droschke, sondern per pedes oder Rad auf die Spuren verklungener Werke, gesungener Lieder und Arien, längst verhallter musikalischer Feste begab, offenbarte ihr die Muße der Zeit doch all“ die polyphonen Klänge, die sich im Laufe der Jahrhunderte in Potsdams Schlössern, Kirchen, bürgerlichen Stuben und auch Filmateliers „ablagerten“. Als intime Kennerin der Potsdamer Musikgeschichte war ihr Ohr über die Jahre geschärft, um mehr als Friedrichs Flötentöne, Bartholdys „Sommernachtstraum“ im Schlosstheater oder Marlene Dietrichs „Blauem Engel“ nachzusinnen. Die Musikwissenschaftlerin grub in Archiven des Stadtarchivs, der Stiftung und des Potsdam-Museums, aber zum Schlüsselerlebnis wurde ihr der Blick auf die 100 Jahre alten Karteikarten in der Friedhofsverwaltung, wo sie zumindest die letzten Wohnungen der verstorbenen Komponisten oder Musiker aufspürte. „Natürlich wusste ich, dass Wilhelm Kempff sen. und Otto Becker in der Kiezstraße wohnten – aber jetzt sind auch die exakten Hausnummern bekannt.“ Wer Texte von der Leiterin der Öffentlichkeitsarbeit der Musikfestspiele kennt, der weiß, dass Christina Siegfried nicht nur pragmatisch an Daten und Fakten kleben bleibt, ihre lockere Schreibe macht diesen ersten musikalischen Stadtführer Potsdams auch zur unterhaltsamen Lektüre. Eigentlich sei dieses Kompendium mit acht verschiedenen Touren längst fällig gewesen, aber nun kröne es die Jubiläen 15 Jahre Musikfestspiele Sanssouci und fünf Jahre Nikolaisaal, so die Geschäftsführerin beider Einrichtungen, Andrea Palent, gestern vor der Presse. Inzwischen hätten sie auch durch die Spaziergänge bei den Musikfestspielen einschlägige Erfahrungen sammeln können und sich fit für den Stadtführer gefühlt, dem Christina Siegfried gern ein Buch über die Potsdamer Musikgeschichte folgen lassen würde. Darin könnten dann auch kulturpolitische Ereignisse, wie die Abwicklung der Philharmonie und des Musiktheaters eine Rolle spielen, die in den „Spaziergängen“ nicht thematisiert wurden. „Irgendwo gibt es eine Schnittstelle“, so Andrea Palent. Jeder Spaziergang – ob „In Wohnungen und Wirkungsstätten“, „Von Kirchen, Kantoren und Orgeln“, beim Musikalischen in Sanssouci, dem Babelsberg-Parcours von den böhmischen Einwanderern bis zu den Hightech-Studios, vom königlichen Schlosstheater bis zum neuen Theater in der Schiffbauergasse – alle Zeitreisen sind mit CD-Empfehlungen angereichert. Wer also nicht nur der visuellen Klangkulisse folgen will, könnte sich per Walkman auch die entsprechende Musik zu Gemüte führen – die Musen also wirklich zum Klingen bringen. Nur von abfahrenden Zügen sollte man sich dabei nicht hetzen lassen. H. Jäger L & H Verlag Hamburg, 200 Seiten, zahlreiche Fotos, Register zur Musik in Potsdam, übersichtliche Karten, 12,80 €.

H. Jäger

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