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Kultur: Mitternächtliche Totenbeschwörung

In der Reihe „nachtboulevard“ traf Charles Dickens auf Dieter Bohlen und Ashton Kutcher

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Lang und schlacksig ist er, höflich und zurückhaltend, beinahe scheu. Er spricht leise, langsam, und er wundert sich über die Errungenschaften dieser Zeit, den Film, das Mikro, die glänzende Oberfläche eines Buchrückens. Kein Wunder, Charles Dickens (1812-1870) ist ja auch schon lange tot. Die lächelnde Mumie zu seinem beinahe runden Geburtstag wiedererweckt zu haben, ist das Verdienst der Veranstaltungsreihe „nachtboulevard“ in der Reithalle, Schiffbauergasse. Die „Late Show Celebration“ will „Unsterbliche“ wie Schriftsteller, Autoren, Schauspieler und andere Kulturschaffende unter die Leute von heute mischen: Mal sehen, was zwischen ihrem Tod und heute passiert ist. Warum Spielleiter Remo Philipp dazu ihren Geburtstag wählt, bleibt sein Geheimnis – aber man soll die Feste ja feiern, wie sie fallen.

Eine historische Polstersitzecke mit Stehlampe und kaltgestelltem Sekt zum Anstoßen, daneben ein Sarg in Schwarz. Dem entsteigt die hagere Figur Charles Dickens in Gestalt des Schauspielers Eddie Irle. Er wird von Impresario und Interviewer Michael Schrodt im schneeweißen Anzug begrüßt. Ein paar biografische Daten, ein paar hübsche Improvisationen – schon rauscht die nächste Figur zum aktuellen Stichtag 7. Februar heran: grob und flapsig Dieter Bohlen, verkörpert von Wolfgang Vogler. Ein loser, unverbindlicher Talk, dann lesen beide Geburtstagskinder aus einem ihrer Bücher. Über Kreuz wäre das zwar hübscher gewesen, doch gewann der Autor von „Oliver Twist“ die Publikumsabstimmung auch so. Noch einer betritt jetzt die Bühne, der US-Schauspieler Ashton Kutcher, gleichfalls von Wolfgang Vogler gespielt. Er hatte noch weniger zu sagen als der grobschlächtige DSDS-Erfinder. Ob deshalb ein paar Leute vorzeitig gegangen sind?

Es war ein heiterer Abend, witzig, unbeschwert, nicht gerade problemorientiert. Was machbar ist, zeigte Eddie Irle mit Klugheit und Eleganz: Er spielte den Abstand von sich zu heute überall mit, bediente spielerisch Neugier – „Gibt es London denn noch?“ – und Humor. Begierig wickelt er seine Preis-Pralinen aus, den verwirrten Moderator völlig ignorierend. Jedes Glitzerding kommt in den Sarg, Mitbringsel aus der Gegenwart. Kurz, er gestaltete die Dickens-Figur nach dem Bedürfnis der Konzeption, und das großartig! Gegen ihn wirkten Kutcher und Bohlen wie hingeschludert im vermeintlichen No-budget-Boulevard, der mit halbstündiger Verspätung begann und abrupt kurz vor Mitternacht endete. Braucht man wirklich drei Promis, wenn sie nicht mehr als ein gemeinsames Geburtsdatum verbindet?

Wonach aber fragt man Grufties, wenn die sich schon die Mühe einer einstündigen Auferstehung machen? Nach Biografischem bestimmt nicht, das kann man nachlesen. Nach Haltungen schon eher, zum Manchester-Kapitalismus etwa, zu seinem Landsmann, dem Sozialreformer John Ruskin, zur schleichenden Verarmung heute. Ganz im Gegensatz zu Kutcher und Bohlen war ja Dickens Credo, einer nicht zu ändernden Welt mit Humor und Güte zu begegnen. Leider wurde diese entscheidende Stelle weder hinterfragt noch groß herausgestellt, schade. Mehr Tiefe also beim nächsten Termin, aber auch ein paar unkorrekte Gedanken aus der Unsterblichkeit, damit sich die mitternächtliche Totenbeschwörung auch wirklich lohnt. Gerold Paul

Gerold Paul

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