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Kultur: Monolog des Sterbens

„Sechs Gramm Caratillo“ in der Reithalle A

Stand:

Punkt 21.30 Uhr: Medizinstudent Clemens nimmt sechs Gramm des mexikanischen Giftes Caratillo zu sich. Er hat ausgerechnet, dass sein Herz nach 30 Minuten aufhören wird zu schlagen. Diese halbe Stunde leidet und kämpft das Publikum mit. Größtenteils junge Leute haben sich in das Foyer der Reithalle A gequetscht, um das Stück „Sechs Gramm Caratillo“ in der Reihe Freistil des Hans Otto Theaters zu sehen. Daniel Kilzer adaptierte den packenden Monolog von Horst Bienek für seine Interpretation des Stückes für drei Schauspieler.

Hohe Erwartungen hatten vor allem diejenigen Zuschauer, die Klaus Kinskis Hörspiel-Version des Stoffes von 1960 kennen. Keuchend und ächzend verausgabt sich Kinski dermaßen, dass man am Ende Sorge hat, ob sich Kinski in dem Falle nicht zu gut in seine Rolle eingefühlt hat.

In der Reithalle teilen sich Alexandra Thiele, Anne König und Enno Hartmann die Rolle des suizidalen Clemens und entfalten vor den Zuschauern ein Werk voll Wahnsinn und Leid. Außergewöhnlich, dass sich gerade junge Schauspieler dieses doch sperrigen Themas annehmen und umso erfreulicher, dass das Stück so viele junge Erwachsene ins Theater lockt.

„Wir haben mehrere Proben nur über den Tod gesprochen“, erzählt der 19-jährige Regisseur Kilzer. „Das war sehr ergreifend, da wir trotz unseres Alters schon Erfahrungen und Erlebnisse mit diesem Thema hatten und uns einige Gedanken über den Tod gemacht haben.“ Von der Kinski-Interpretation habe man bewusst Abstand genommen und einen völlig anderen Ansatz gewählt.

So hebt schon die einleitende Szene, die sich in eher lockerer Art und Weise des Stoffes annimmt, die Beklemmung vom Publikum. Das spartanische Bühnenbild wird von den Schauspielern erst im Stück aufgebaut, und auch das Ankleiden vollzieht sich vor den verblüfften Zuschauern. Der Tod, der unausweichlich am Ende des Stückes steht, wird dadurch gewissermaßen enttabuisiert.

Trotz der intimen Atmosphäre erweist sich das Foyer der Reithalle als ziemlich ungeeignet: die quietschende Eingangstür, fehlende Sitzplätze, die Geräusche von der Bar und die winterliche Raumtemperatur drücken die Stimmung zunächst.

Doch die sprudelnden Emotionen und eruptiven Anfälle auf der Bühne ziehen die Zuschauer, als Voyeure wider Willen, schnell in den Bann. Langsam fängt das Gift in Clemens Körper an zu wirken. Der Puls steigt, die Glieder werden taub und der Schweiß rinnt. Mitreißend spielen die Akteure den von Selbstzweifeln zerfressenen Clemens, der mal tobend auf dem Tisch steigt und nach der unheilvollen Uhr schlägt und dann wieder im melancholischen Rückblick vergangene Lieben reflektiert. Der impulsive Wahnsinn nimmt seinen Lauf und die Uhr tickt unerbittlich über der Szenerie. Der Monolog des Sterbens, der von Clemens als selbstzerstörerisches Experiment auf Tonband aufgenommen wird, schwillt zu einem rasenden Gefühls-Orkan.

Punkt 22 Uhr: ein Clemens sitzt auf dem Stuhl, der andere liegt in der Ecke und einer kauert reglos unter dem Tisch. Dann Rauschen. Nun darf auch das Publikum weiter atmen und beglückwünscht die junge Theatergruppe zu dem gelungenen Stück mit lang anhaltendem Applaus. Christoph Henkel

Christoph Henkel

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