Kultur: Montesquieu heute
Tagungen am Forschungszentrum für Europäische Aufklärung zum 250. Todestag des Philosophen
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Tagungen am Forschungszentrum für Europäische Aufklärung zum 250. Todestag des Philosophen Im kommenden Jahr ist der 250. Todestag des großen französichen Rechts- und Geschichtsphilosophen und Literaten Montesquieu (1689-1755). Was kann uns sein Werk heute noch sagen, in dem man sich, so der Politikwissenschaftler Paul-Ludwig Weinacht (Universität Würzburg), ein Leben lang wie in einem Irrgarten bewegen kann und dessen Sätze unendlich viele Denkanstöße zulassen? Bereits im vergangenen Jahr gab es im Forschungszentrum Europäische Aufklärung (FEA) eine Tagung zu Montesquieu. Damals lautete die Frage, wie ist Montesquieu zu lesen? Und es stellte sich heraus, dass der Philosoph in der aktuellen Forschung unbefriedigend gelesen wird. Der Entstehungskontext wurde nicht ausreichend beachtet. Nun fand im FEA erneut eine Tagung statt: „Hauptströme der Montesquieu-Rezeption und ihre Texte“. Die Beiträge bemühten sich um Berücksichtigung des Entstehungskontextes und fragten auf der Grundlage dieses genaueren Lesens nach der Relevanz der Texte für die Gegenwart. Günter Lottes, Direktor des FEA, und Edgar Mass, Professor em. für Romanistik und Mitherausgeber der historisch kritischen Montesquieu-Werkausgabe, hatten zu der Tagung eingeladen. Der kleine Sitzungssaal erlebte seine Einweihung, das FEA ist gerade erst an den Neuen Markt gezogen. Nur knapp 20 Menschen bevölkerten den Saal, Fachpublikum. Zu den Potsdamer Studierenden scheint diese Veranstaltung nicht vorgedrungen zu sein. Unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg lag der Sinn der Beschäftigung mit Montesquieu auf der Hand, zumindest in West-Deutschland. Die verheerende Bündelung der Staatsgewalt in einer Hand sollte in Zukunft verhindert, die Freiheit des Individuums gesichert werden. Montesquieus Lehre von der Gewaltenteilung fungierte, wie Paul-Ludwig Weinacht zeigte, als Anknüpfungspunkt an die Tradition der konstitutionellen Bewegung und an das Vorbild der westlichen Demokratien. Lediglich aus kommunistischen Kreisen wurde damals die Teilung der Staatsmacht in voneinander unabhängige Legislative, Exekutive und Judikative als „scheindemokratisch“ abgelehnt. Alle Macht sollte bei der breiten Masse des Volkes liegen. Die Montesquieu-Übersetzungen jener Zeit, also die Übersetzung eines Zugehörigen der französischen „Besatzernation“, galten als Chance, sich wieder am europäischen Kulturgespräch zu beteiligen. Heute gelte es nicht mehr, das Individuum vor einem übermächtigen Staat zu schützen, so Paul-Ludwig Weinacht, sondern vor den Folgen eines ohnmächtigen Staates, der aus der Gesellschaft kommende Bedrohungen nicht mehr abwehren kann. Für diese gegenwärtige Problematik könne im gesamten Werk von Montesquieu nach Antworten gesucht werden. Die aufklärerische Modernität Montesquieus strich Vanessa de Senarclens (FEA) hervor. Sie zeigte ihn als Historiker, der an der Gewissheit und sogar der Möglichkeit von umfassendem historischem Wissen zweifelte und Geschichte als etwas Anachronistisches begriff. Sebastian Neumeister (FU Berlin) sprach über Montesquieu als Ästhetiker, der von einem absolut zu setzenden Begriff des „Geschmacks“ Abstand nahm und bezweifelte, dass sich im Bereich des Geschmacks überhaupt etwas Universelles sagen lasse. In dem für September 2005 geplanten Kolloquium anlässlich des 250. Todestages wird die Befragung von Montesquieus Werk im Hinblick auf die Europäische Union fortgeführt werden, die Guillaume Barrera (Lyon) in seinem Tagungsbeitrag begonnen hat. Auch Feminismus- und Genderfragen werden eine Rolle spielen und erneut Montesquieu als Historiker, der Geschichte nicht als Fortschritt begriff und Europa nicht als die Spitze der Entwicklung, der alles nachzufolgen hatte. Für Montesquieu, das legte Günter Lottes dar, gab es eine unerschöpfliche Pluralität der Lebensumstände und ebenso viele unterschiedliche Lösungswege für wiederkehrende Probleme. Lässt sich aus der Geschichte überhaupt etwas lernen? Dagmar Schnürer
Dagmar Schnürer
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