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Kultur: Mürrische, seltsame Leute

Hörlounge im Waschhaus: „Tannöd“, ein Krimi von Andrea Maria Schenkel

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Mit wahren Geschichten wird man eigentlich niemals fertig. Sie legen tiefe und weitverzweigte Spuren, häufen mehr Fragen als Antworten auf, saugen immer neue Leute zu sich heran, bis auch solche „Fälle“ irgendwann „zu Ende“ sind. Die 1922 in Bayern geschehene Bluttat im „Hinterkaifeck“ ist es bis heute nicht. Niemand weiß, wer hinter dem sechsfachen Mord an der Gruber-Sippe auf dem einsamen Weiler steckt. Seltsame Spuren im Schnee führten zu diesem Hof, aber keine zurück, eine Zeitung wurde gefunden, die niemand hier las, es gab Geräusche, Beobachtungen, Spekulation. Ein familiärer Rachezug mit der Kreuzhacke, ein Fememord, wie er im Vorfeld des „Dritten Reiches“ immer wieder geschah? „

„Deutschlands rätselhaftester Mordfall“ bleibt ungelöst, obwohl der Münchener Journalist Peter Leuschner „die geradezu gespenstischen Ermittlungen“ neu recherchierte und in einem Buch veröffentlichte. Ein Theaterstück nahm sich dieses wahren Stoffes 1992 an, der Münchner Autorin Andrea Maria Schenkel ist es sogar gelungen, mit ihrem, teils frei nachgestalteten, Text den „Deutschen Krimi Preis 2007“ zu gewinnen, und den Vorwurf eines Plagiates – am Theatertext – dazu.

Den Schauspielern Andreas Erfurth und Kai Frederic Schrickel gefiel ihr Debüt-Roman „Tannöd“ so gut, dass sie ihn als Nummer Elf in ihr „Hörlounge“-Programm aufnahmen. Am Donnerstag hatte er als gestaltete Lesung im „Waschhaus“ seine Premiere. Neben Schrickel lasen die Schauspieler Theresa Scholze, Gabriele Witter und, mit rauer Stimme, Roland Kuchenbuch im gut-besuchten, aber ziemlich verräucherten „Club“.

Auf die ausgestellten Fotos vom Schauplatz der Bluttat hätte man hinweisen können, aber es war auch so spannend genug. Ermordet wurden in der schneeigen Nacht zum 1. April 1922: Andreas Gruber, Ehefrau Cäcilie, seine verwitwete Tochter und deren Tochter sowie ihr siebenjähriger Sohn, dazu die neue Magd Maria, mit deren Anstellung das ungewöhnliche Buch beginnt. Die Autorin verwendet eine exzellente Montagetechnik, indem sie vom Gang der polizeilichen Ermittlung erzählt, aber auch jede der handelnden – oder leidenden Personen – in einer genialen Zeitverschiebung zu Wort kommen lässt. Das ständige Präsens lädt diesen Fall dabei mit Emotionen auf. Nachbarn beschreiben die Grubers als mürrisch-seltsame Leute, den Einöd-Hof als Ort des Spuks. Andrea Maria Schenkel wechselt ständig die Perspektiven, sie erzählt, wie Maria nach Hinterkaifeck kam, schildert den Nachbarn Baumgartner, der auf dem Heuboden zum Zeugen der Morde wird, sogar der unbekannte Täter taucht als Anonymus auf: Nachdem alles vorbei ist, besucht „er“ den Hof zweimal täglich, füttert das Vieh, melkt die Kühe, um die Milch auf den Mist zu kippen. Und verschwindet wieder, die Tat wurde ja erst vier Tage später entdeckt. Besonders präzis sind Lokalkolorit und soziales Gefüge erfasst.

Eine solche Struktur lädt geradezu ein, mit verteilten Rollen zu lesen. Alles gut, alles paletti, die Zuschauer folgten dem Krimi gespannt. Leider wich die Autorin etwas von der Wirklichkeit ab, als sie dem Publikum bei relativ offenem Ende einen Täter „vorschlug“. Leuschner hingegen meint, der wirkliche Mörder könnte noch hochbetagt „unter uns“ leben. Zu Ende ist also nichts. Hinterkaifeck wurde längst abgerissen. Nur ein „Marterl“ erinnert an den grausigen Ort auf dem jetzt blanken Acker. Gerold Paul

Gerold Paul

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