Kultur: Mut zum Grotesken
Die norwegische Gruppe „Zero Visibility Corp.“ bei den Tanztagen
Stand:
Die norwegische Gruppe „Zero Visibility Corp.“ bei den Tanztagen Hinter ihnen ist die Backsteinwand der Russenhalle angestrahlt, so dass die vier Frauen als schwarze Silhouetten auf das Publikum zukommen. Bassteppiche wummern durch den Raum. Dann wird es hell. Die erste Irritation ist der Schmuck. Tanzen mit langen Ketten, Ohrgehänge und Ringen? Außerdem tragen sie Stiefel oder Schuhwerk mit Pfennigabsatz oder dicker Sohle. Trägeroberteile, dazu Hosen. Als hätten sie sich zum Ausgehen zurechtgemacht. Dann die zweite Irritation: Irgendetwas tropft aus ihrem Mund, es ist durchsichtig und zieht Fäden. Die Frauen blicken ins Publikum und reagieren mit keiner Bewegung auf die Flüssigkeit, die ihre Oberteile durchnässt. Es ist ein unheimliches Bild, begleitet von Klängen, welche die unheimliche Stimmung verstärken. „The Terror of Identification“ hieß die norwegische Produktion, die bei den Tanztagen zu sehen war. Nur in wenigen Passagen gaben sich die Tänzerinnen dem Fluss ihrer Bewegungen und treibender, rhythmischer Elektromusik hin. Der zum Street Dance tendierende Stil von Kristianne Mo konnte sich hier entfalten. Doch der Großteil der Tanzperformance bestand aus Brüchen, Verweigerungen, aus ungewohnten Situationen. Tänzerinnen, die gegen den Rand der Bühne rannten, als wollten sie weg. Die sich mitten im Stück vom Publikum mit Rosen beschenken ließen, denen sie dann die Köpfe abbissen. Der Rückzug in einen Raum im Hintergrund der Bühne, wo plötzlich scheinbar privat geplaudert wurde. Tänzerinnen, die ihre Mittänzerinnen beobachteten, als wären sie selbst Publikum. Die sich in Bewegungen steigerten, dann innehielten und die Wirkung ihres Tanzes im Publikum verfolgten. Brutale Griffe an den eigenen Hals, Bauch, Po: ein gnadenloses Vorführen des weiblichen Körpers, ein Austesten von Bewegungen, die als Pose oder ins Leere laufende Wiederholung entlarvt wurden. Man fühlte sich angezogen von Schönheit, von Weiblichkeit, von harmonischen Bewegungen, einladend geöffneten Armen und freundlichem Lächeln. Doch im nächsten Moment entpuppte sich die Einladung als Trug, wurde zerstört von Fratzen, außer Kontrolle geratenen Körpern, denen nicht zu trauen war. Die nie das blieben, was sie schienen und was von weiblichen Körpern erwartet wird. So rätselhaft manche Geste blieb und mancher Blick, so faszinierend war es doch meistens, zuzuschauen. Das lag an der geschmeidigen Kraft des Tanzes, vor allem von Cecilie Lindeman souverän auf die Bühne gebracht. Beeindruckend die exakte Synchronizität, die immer wieder hergestellt und dann subtil verschoben wurde. Mut zum Grotesken und Talent zum Komischen bewies Line Tormoen, die keine Fratze scheute und deren abrupte, lapidare Haltungswechsel immer wieder Lacher provozierten. Deutlich zeigte sich bei ihr das Herausfallen aus und das Spiel mit unterschiedlichen Rollen, das die Choreographin Ina Christel Johannessen zu vermitteln suchte. Zum Schluss sprach Cilla Olsen auf Englisch einen Text der Heiligen Theresia von Ávila. Dazu wurden Eier aufgeschlagen, das Eigelb tropfte durch aufgehaltene Hände zu Boden. Das Eigelb als die reichen Möglichkeiten, die uns gegeben sind und zwischen den Fingern wegflutschen, erklärte die Choreographin im anschließenden Gespräch mit dem größtenteils begeisterten Publikum. Das war die Schwäche des Abends, besonders seines Schlusses: dass vieles erst im anschließenden Gespräch greifbar wurde, auf der Bühne aber ein unverständlicher Vorgang geblieben war. So wäre die Beschränkung auf weniger und Konzentration auf klarere Bilder besser gewesen.Dagmar Schnürer
Dagmar Schnürer
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