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Oben warten sie schon. Fritz J. Raddatz auf dem Weg zu seiner Lesung in der Druckerei Rüss.

©  Manfred Thomas

Kultur: Nachtbuch, Schmerzensbuch

Fritz J. Raddatz las aus „Tagebücher. Jahre 1982–2001“ in der Druckerei Rüss

Stand:

Erst Sauna, dann Massage und dann Michael-Jackson-Gucken.

„Vor mir steht dieses Idol von Millionen. Der kleine Popsänger Michael Jackson. Eine totale Kunstfigur, garkein Mensch, ein Design, entworfen in den Plattenstudios von Pepsi-Cola; ein von zig Operationen bis zur Geschlechts- und Alterslosigkeit entstelltes Gesicht, schwarze Brille und Walkman im Ohr (als höre er nicht genug Musik ...), mit dem kleinen Arsch wackelnd wie ein Erpel, in spitzen Lackschühchen, bewacht von zwei überdimensionierten Bodyguards, die nicht etwa muskulös sportlich, sondern wie Pirelli-Männchen fett-aufgeblasen (Dagegen sind Botero-Figuren von Bernard Buffet).“

Wir schreiben den 12. August 1992. Fritz J. Raddatz sucht Erholung im Wellnessbereich des Atlantic Hotels in Hamburg. Da liegt er, dämmert auf der Liege am Pool und fährt hoch, aufgeschreckt von der Anwesenheit des „King of Pop“, der im Rahmen seiner „Dangerous World Tour“ im Atlantic abgestiegen ist. Eine Begegnung, für die andere nicht allein nur ihre Großmutter verkauft hätten, die Raddatz aber nur als lästig empfindet und dann nutzt für ein vernichtend-treffendes Kurzporträt von Michael Jackson und den Geistern, die diese Kunstfigur schufen.

Hatte einen schon beim wiederholten Lesen der „Tagebücher. Jahre 1982-2001“ diese Episode immer wieder herzhaft amüsiert, als Fritz J. Raddatz sie am Samstag in der ausverkauften Druckerei Rüss selbst las, war das Vergnügen noch einmal um einiges größer. Was nicht allein an dem angenehmen, ruhigen und akzentuierten und von feinstem Humor getragenen Vortrag des 80-Jährigen lag, sondern auch und vor allem an der Herzlichkeit und Offenheit, Ehrlichkeit und leisen Zufriedenheit, die dieser Mann an diesem Abend ausstrahlte. Und hatte man Raddatz schon lange zuvor wegen seiner journalistischen und schriftstellerischen Arbeiten bewundert, nach dieser persönlichen, knapp zweistündigen Begegnung im Obergeschoss der Druckerei Rüss konnte man gar nicht mehr anders, als ihn in sein Herz zu schließen. Das überraschte einen dann doch selbst am meisten. Ausgerechnet Fritz J. Raddatz? Dieser Snob? Dieser Dandy? Dieser selbsternannte „Unruhestifter“?

Raddatz, in Berlin geboren, war stellvertretender Leiter des Rowohlt Verlags und von 1977 bis 1985 Feuilletonchef der Wochenzeitung „Die Zeit“. Er ist Vorsitzender der Kurt-Tucholsky-Stiftung, Herausgeber von Tucholskys gesammelten Werken und hat neben herausragenden Biografien über Gottfried Benn, Heinrich Heine und Rainer Maria Rilke mit „Kuhauge“, „Der Wolkentrinker“, „Die Abtreibung“ und „Ich habe dich anders gedacht“ hervorragende Erzählungen geschrieben. Raddatz, der Literaturkritiker und -verfechter, der Literatur- und Sprachliebhaber aber ist vor allem einer der geistreichsten und intellektuellsten Köpfe Deutschlands. Einer der letzten Riesen, die nach und nach aussterben. Ein streitbarer wie umstrittener Mann, der sich über Jahrzehnte hinweg in den wichtigsten, ja nennen wir es ruhig so, intellektuellen Kreisen Deutschlands bewegt hat. Der immer dazugehören wollte, sich aber nie anbiederte in diesem Haifisch- und Piranhabecken und entsprechende Blessuren davontrug. Der mit seinem 900 Seiten umfassenden Buch „Tagebücher. Jahre 1982-2001“ Einblicke in diese heiligen Kreise gewährt, die es in dieser Offenheit und Direktheit und in diesem Umfang noch nicht gegeben hat. Und der mit diesem Tagebuch naturgemäß für entsprechende Reaktionen gesorgt hat.

Ob nun narzistisches Geschwätz, wie die einen, oder der von den Schriftstellern so nicht geschriebene „große Gesellschaftsroman der Bundesrepublik, das balzacsche Porträt unserer Zeit“, wie die anderen sagen; in erster Linie sind es ganz persönliche und dadurch auch ganz schonungslose Einblicke, die sowohl Raddatz betreffen, als auch die Menschen, die ihn umgeben. Dass darunter Schriftsteller wie Günter Grass, Siegfried Lenz und Thomas Brasch sind, auch Rudolf Augstein, Gründer und Herausgeber des Nachrichtenmagazins „Der Spiegel“, oder Marion Gräfin Dönhoff, Chefredakteurin und Mitherausgeberin der „Zeit“, und dass es dadurch auch viel Klatsch und Tratsch aus dem Kulturbetrieb zu lesen gibt, sorgt für erhebliche Brisanz und weckt entsprechend die Neugier. Für ordentlich Würze aber sorgt Raddatz selbst mit seiner Offenheit und Schonungslosigkeit.

Das liest Raddatz, die Jahre von 1982 bis 2001 durchmessend, in der Druckerei Rüss von Maximilian Schell, der nur noch ein „rückenkrummer, ältlich und auseinandergelaufen aussehender“ Mann ist, nimmt sich Grass wegen dessen ständiger Untreue im persönlichen Gespräch vor; nennt die Dönhoff eine „alte Herrenreiterin“ und sorgt bei manchen Gästen für einen kurzen Moment der entsetzten Atemlosigkeit, als er dem vom Alkohol schon fast vernichteten Augstein attestiert, dass dessen größter Fehler darin bestanden habe, sich nicht rechtzeitig das Leben genommen zu haben. Dazwischen immer wieder die Selbstreflexion, die Auseinandersetzungen mit den eigenen Unzulänglichkeiten und herrlich-bizarre und gelegentlich auch slapstickartige Begegnungen wie die mit dem „kleinen Popsänger Michael Jackson“.

Es dürfte nicht Tagebuch, sondern Nachtbuch oder gar Schmerzensbuch heißen, sagte Raddatz im anschließenden Gespräch. Denn oft erst in der Nacht werde das Erlebte niedergeschrieben und gestalte sich nicht selten, wenn man sich denn für Ehrlichkeit, also Schonungslosigkeit entschieden hat, als äußert schmerzhafter Prozess. Und er sprach im übertragenden Sinne von einem schwarzen, bösen Vogel, der ihm beim Schreiben auf der Schulter sitze und ihn dabei regelmäßig mit dem Schnabel traktiere. Nach diesem Abend wünscht man sich nur, dass dieser schwarze, böse Vogel noch lange auf der Schulter von Fritz J. Raddatz sitzt, ihn weiter traktiert und ihn dazu bringt, immer weiter und weiter die Seiten in seinem Tagebuch zu füllen.

Fritz J. Raddatz: Tagebücher 1982-2001, Rowohlt Verlag, Reinbek 2010, 34,95 Euro

Dirk Becker

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