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Nackt aus Solidarität. Volmir Cordeiro macht sich in seinem Stück „Céu“ gemein mit Bettlern, Rebellen, Transvestiten – mit den Ausgestoßenen.

© Laurent Friquet

Kultur: Nackt ist die Wahrheit

Zwei Stücke brasilianisch-stämmiger Choreografen deklinieren bei den Potsdamer Tanztagen die Themen Schutz und Entblößung, Politik und Ritual auf ganz unterschiedliche Weise durch

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Warum diese Nacktheit, wird am Ende dieses Abends im Gespräch mit den Künstlern eine Zuschauerin fragen, unangenehm berührt vom sichtbaren Geschlecht des Tänzers Volmir Cordeiro, der wahrlich nichts tut, um es zu verstecken. Ganz im Gegenteil: nur in eine transparente Tänzerhose gesteckt, expressiv, zuweilen exhibitionistisch. Und tatsächlich ist dieser spielerische Akt der Entblößung kein unerheblicher Teil in dem gut halbstündigen Tanzstück „Céu“ bei den diesjährigen Tanztagen in der „fabrik“. Jedoch nicht aus purer Lust an irgendeinem billigen Statement, das mit pornografischer Verve schockieren soll. Da steht kein Beau mit schmutzigen Gedanken auf der Bühne, der mal nebenbei ein wenig lasziv die Hüfte schwingt. Nein, diesem Auftritt gebührt alle Achtung, denn er ist vor allem mutig und ambitioniert. Vielleicht noch mehr als das Stück „Blanc“ von Vania Vaneau, das im Anschluss daran nach einer Umbaupause Deutschlandpremiere feierte und, mit einem sphärischen, raffinierten Sound untermalt, von dem Gitarristen Simon Dijoud begleitet wurde.

Aus „Céu“, portugiesisch für „Himmel“, holt Volmir Cordeiro eine Menge herab. Das moderne Tanztheater zeigt sich unmittelbar verschwistert mit anderen zeitgenössischen Künsten, die der Harmonielehre aus vielerlei Gründen abgeschworen haben. Abstrakte Malerei. Zwölftontechnik. Stockhausen. Jazz bis Hip-Hop. Für den Tanz bedeutet das, den Körper nicht mehr in einer grazilen Geste vollkommen werden zu lassen, sondern zur Baustelle zu erklären. Er ist versehrt, beschädigt, ein Fragment. Und wer er, gesund und ganz, einmal war oder wird, welche Rolle ihm dabei in der Gesellschaft zukäme, das suchen die unzähligen Experimente des Tanztheaters herauszufinden.

Nun ist Nacktheit hierzulande kein skandalträchtiges Thema mehr. Doch wenn Volmir Cordeiro, gestisch ausstaffiert zu einer Art Vogelscheuche, quasi nackt vor die erste Zuschauerreihe tritt, macht das großen Eindruck. Kein Bühnenbild fängt ihn auf. Keine Musik lenkt die Aufmerksamkeit der Zuschauer ab. In diesem leeren Bühnenraum zählen ausschließlich sein Körper, sein Atem, muss er alles leisten. Das ist stark. Obszön. Selten schön. Aber dennoch anmutig. Genauso soll es sein. Denn in diesem Stück geht es um die Anmut der Ausgestoßenen. Das muss man wissen, um das rechte Verhältnis zu den optischen Eindrücken zu finden. Warum diese Obszönität? Warum diese Verrenkungen? Warum die Nacktheit? Es handelt sich um eine solidarische Kunst für die Armen.

Davon erzählt der Brasilianer in der anschließenden Gesprächsrunde. Vom sozialen Hintergrund in seiner Heimat und von Frankreich, wo er am Centre National de Danse Contemporaine d’Angers seinen Master gemacht hat – um eine Doktorarbeit über Figuren der Ausgrenzung im zeitgenössischen Theater zu beginnen: Obdachlose, Prostituierte, Bauern, Transvestiten. Cordeiro gleitet über die Bühne, verharrt mit vorgeschobenem Becken, spreizt die Arme, wedelt fordernd wie ein Stricher mit den Händen, liegt gedemütigt in der Ecke, murmelt verrückte Sprachfetzen, steht wieder auf. Es ist der totale Selbstverschleiß, um den Ausgeschlossenen im Drama ihres Elends ein menschliches Antlitz zurückzugeben.

Die Suche nach Ausdruck von Identitäten beschäftigt, wenn auch auf ganz andere Art, auch Vania Veneau. In ihrem Solo „Blanc“ wird die Grenze zwischen Tanztheater, Performance und bildender Kunst stark aufgeweicht. Anfangs verausgabt sich die Protagonistin körperlich und gestisch. Ihr Atem zerschneidet wie Peitschenhiebe die Inszenierung eines offenbar in der Vergeblichkeit umherirrenden Individuums, als würde der verzweifelte Leib in Scheiben gespaltet. Rausch und tranceartige Bewegungen zeigen Unsicherheit. Hülle für Hülle, Kleidungsstück auf Kleidungsstück legt sie an, um schließlich wie ein famoses Wollknäuel abzutreten, sich zu entpuppen und in die Rolle des Schamanen zu schlüpfen, der ein Licht im Kreis schwingt und die Geister beschwört. Im Finale ist auch sie nackt und legt sich statt Kleidung bunte Farben an. Der nackte Körper tritt nicht als sexuelles Emblem in Erscheinung. Er bildet die Folie für sämtliche Überschreibungen mit kulturellen Graffitis.

Wie Volmir Cordeiro stammt auch Vania Veneau ursprünglich aus Brasilien. „Blanc“ ist das erste von ihr selbst entwickelte Solo und wandelt lustvoll zwischen Ritual und Spiel. Aus der multikulturellen, teils indianischen Kultur Brasiliens heraus als verheißungsvoll empfunden, wirkt dies hier mitunter etwas symbolisch, sehr vordergründig. Der Gedanke, dass die Farbe Weiß alle Farben beinhaltet, lässt eine große Bandbreite kultureller wie körperlicher Attribute in den Fokus treten: Musik, Tradition, Bewegung, Mode, Verhaltenskodizes, Selbstverständnis, Energien. Vom Umfang her birgt das ein großes Risiko an Ungenauigkeiten.

Im Künstler-Talk nach beiden Aufführungen wird eines klar: Kunst ist nicht mehr heilig, schön und unangreifbar. Sie handelt mit Problemen und versucht Formen dafür zu finden. Der moderne Tanz spielt seinen Part. Ralph Findeisen

Ralph Findeisen

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