Der Fanfarenstoß ist alles andere als erhaben, stumpf dringt er aus einem zusammengerollten Stück Pappe. Dann schlendert Gaetan Bulourde, der belgische Choreograf, die Treppe hinunter auf die Bühne: ein Schlachtfeld aus leeren Pappkartons. Wie nebenbei fangen er und seine Mittänzer Sara Manente und Christophe Albertijn an, die verstreuten Requisiten ein wenig beiseitezuräumen, beiläufig singt Bulourde dabei einen Text, den Albertijn ihm vordeklamiert. Er klingt dabei wie ein Kind, das die Worte der Mutter absichtlich nicht versteht, sie in eine selbstausgedachte Melodie quetscht und damit ihren Ernst unterwandert. Sara Manente bläst dazu auf der Kante eines Blatts Packpapier, dann streift sie sich einen Rock über oder etwas, das ausssieht wie ein in Fransen aufgelöster Flickenteppich. Auf den Kopf stülpt sie sich zuerst ein Käppi, dann einen Kranz aus Plastikblumen und beginnt schließlich zu tanzen. Eine nachlässige Variation der Choreografie von „Le Sacre du Printemps“ („Die Frühlingsweihe“), als wäre sie der Vorgaben müde.
Gaetan Bulourde hat den Tanzklassiker „Le Sacre du Printemps“ auf den ersten Blick von allem Erhabenen befreit, seine Version „Spoiled Spring – there are no more seasons“, die er am Freitagabend auf die Bühne des T-Werks brachte, ist eine Arte-Povera-Version der Frühlingsweihe, also eine der ärmlichen Mittel: Arte Povera, so nannte der Kunstkritiker Germano Celant die Arbeiten einiger italienischer Künstler, die er 1967 in Genua sah – allesamt Installationen aus alltäglichen Mitteln. Pappe, Bindfaden, Holz, Erde und so fort. Dahinter steckt einerseits natürlich immer die Unlust am Vorgefertigten, an der vermeintlichen Bequemlichkeit des Kapitalismus, aber zugleich auch die Lust am Spiel, am Ausprobieren. Arte Povera ist eine Feier des Unfertigen.
Und die drei Tänzer auf der Bühne feiern: Nach und nach entwickelt ihre Performance – das Verkleiden und Schminken, das Spielen auf ihren papierenen Instrumenten – die Atmosphäre einer ausgelassenen Party. Während die drei sich anfangs selbst einen Beat gebastelt haben, indem sie – perfekt synchron – die Pappkartons mit ihren Füssen über die Bühne gekickt und kurz Igor Strawinskys Origianlmusik zu „Le Sacre“ eingespielt haben, sickert nun langsam ein ausgewachsener Techno-Sound durch den Saal.
Bulourde hat sich inzwischen komplett ausgezogen, nur der violette Fetzen eines Badvorlegers baumelt wie ein Feigenblatt vor seinem Schritt. Einen zweiten Badvorleger hat er sich, ganz Indianer-Häuptling – auf den Kopf gebunden. So, endlich auch optisch von jeder Ordnung befreit, beginnen die drei noch einmal zu tanzen, um auch den letzten Rest moderner Vernunft abzuschütteln. Denn klar: „Le Sacre“, 1913 von Strawinski komponiert und von Vaslav Nijinsky choreografiert, gilt als eines der Schlüsselwerke der Moderne, einer Zeit, in der Vernunft und Rationalismus über die Dogmen der Religion triumphierten. Zugleich aber nimmt „Le Sacre“ auch die Dialektik der Aufklärung, den Verlust des Magischen, vorweg, indem er ein archaisches Opferritual thematisiert.
Genau dieses Moment hat Bulourde mit seiner Version aufgegriffen und in unsere heutige, durchindividualisierte und bis zur Unkenntlichkeit fragmentierte Zeit transportiert. Viel zu schnell flackert vor den – jetzt zum Scheiterhaufen aufgetürmten – Pappkartons das kleine digitale Feuer auf einem Laptop, viel zu schnell ist diese Feier des Un-Sinns vorbei. Ariane Lemme
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