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Kultur: Ode an die Verrücktheit

Das Hans Otto Theater brachte im „Schaufenster“ der Fachhochschule „Veronika beschließt zu sterben“ zur Premiere

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Hier ist der Ort, wo jeder seine Verrücktheit leben kann. Angstzustände, Verfolgungswahn, sexuelle Verklemmung sind kein Stigma. In der Psychiatrischen Klinik gibt es keine Tabus. Die Macken des anderen werden akzeptiert. Die Tür nach draußen steht jedem offen. Doch alle bleiben, sie brauchen den Schutz. Außer Veronika, die beschlossen hat zu sterben, und nun in der Klinik aufwacht, weil die Tablettendosis zu gering war.

Paulo Coelhos vor allem von jungen Leuten verschlungener Bestseller ist seit Donnerstag auf der Bühne des Hans Otto Theaters zu sehen: Ein gewagtes Unternehmen, wie so oft, wenn Literatur festgelegte Gesichter bekommt, die mit der eigenen Fantasie nicht immer Hand in Hand gehen. Coelhos Roman „Veronika beschließt zu sterben“ hat zudem etwas Religiös–Pathetisches, was erst einmal in lebendige Dialoge gefasst sein will. Bei der Adaption herausgekommen ist ein kurzweiliger Theaterabend, der auf Situationskomik setzt und dennoch die Figuren ernst nimmt. Es gibt sehr bewegende Momente, aber auch einige Fragezeichen.

Dass Regisseur Hakon Hirzenberger, der auch die Bühnenfassung schrieb, wegen unüberwindbarer künstlerischer Differenzen das Handtuch warf, und das Ensemble das Stück allein zu Ende inszenierte, merkt man der Aufführung nicht an. Sie wirkt stringent erzählt und punktet vor allem durch die überzeugenden schauspielerischen Leistungen.

Auch der Raum im „Schaufenster“ der Fachhochschule ist bestens gewählt und von Bühnenbildner Matthias Schaller mit nur wenigen Requisiten ausgestattet: Die weißen kahlen Wände, die langen Flure, das grelle Neonlicht – Klinikatmosphäre, wie man sie kennt. Darin agiert, ganz dicht am Publikum, der „Gott in Weiß“, in diesem Fall Doktor Igor. Uwe Eric Laufenberg gibt ihm auf dem ersten Blick recht sympathische Züge. Er liest seinen Patienten vor, geht auf sie ein, nimmt sie offensichtlich ernst. Aber er experimentiert auch mit ihnen, benutzt sie als Versuchskaninchen. So wie Veronika, der er ein Mittel verabreicht und ihr suggeriert, dass sie einen Herzschaden und nur noch wenige Tage zu leben hat. Wird sie angesichts der Kürze der Zeit, die ihr angeblich verbleibt, noch einmal voll ins Leben greifen? Sie wird. Bernadette Abendsteins Veronika ist nach der anfänglichen Verzweiflung über ihren fehlgeschlagenen Suizidversuch schnell, fast zu schnell, wieder am Leben dran. Sie bietet Doktor Igor Paroli, lässt sich nicht so einfach in Fragebögen erfassen. Für sie gibt es nicht nur ein Ja oder Nein, sondern auch ein Vielleicht, ein Dazwischen.

Ihre Beziehung zu Eduard, der sich wie ein Kokon von der äußeren Welt abgekapselt hat, macht ihr wieder Lust am Leben. Er möchte, dass sie für ihn Klavier spielt, mehr, immer mehr. Und plötzlich findet er wieder den Weg aus der inneren Isolation nach außen, findet auch zur Sprache zurück. Bei diesem Figurenpaar hätte man sich mehr biografisches Hinterland gewünscht, vor allem auch bei Eduard. Von ihm erfährt man nur, dass er aus reichem Hause stammt und das Paradies malen will. Da hätte der Bühnenautor seinem Doktor Igor schon noch ein paar mehr Sätze in den Mund legen können, um den „stummen“ Patienten genauer zu zeichnen. Eigentlich geht es Eduard laut Coelho ja ähnlich wie Veronika. Auch er konnte seinen Weg nicht gehen, weil die Eltern anderes für ihn im Sinn hatten.

Bei Veronika kommt indes das Klavierspiel als für sich selbst wieder entdeckte Leidenschaft zu kurz. Sie spielt in der Inszenierung vor allem auf Wunsch von Eduard. Dabei öffnen sich gerade auch für sie durch die Musik wieder neue Horizonte. Letztlich ist es auch die Musik, die ihr die Lust an der Sexualität zurück bringt. Ihr Masturbieren wurde mit viel Feingefühl im hinteren Bühnenraum in Szene gesetzt. Bernadette Abendstein imponiert in ihrer Rolle vor allem durch das selbstbewusste Auftreten, hat auch einige starke verzweifelte Momente. So wenn sie ihrer Mutter hinterher läuft, um ihre Liebe heraus zu schreien. Moritz Führmann spielt den schwierigen Part des Schizophrenen sehr einfühlsam, mit großer innerer Behutsamkeit. Nichts wirkt aufgesetzt. Wie er ins Leben zurück kehrt, ist von leiser, ergreifender Heiterkeit. Um so unverständlicher ist die Reaktion von Doktor Igor, als er zu Elektroschocks greift, weil er Eduards „Erwachen“ für zu früh hält. Eigentlich schreibt man dem Bühnen-Doktor „feinere“ Methoden zu.

Dieser Arzt seziert die Patienten mit wohlfeilen Worten. Mitunter klingen die Monologe etwas „papiern“, zu romangetränkt. Hirzenberger erfand zwar eine Krankenschwester, die sich für Geld um das Wohl des Doktors kümmert, aber sie ist mehr Staffage, als auflockernder Dialogpartner. Und sie kann auch nicht wirklich etwas gegen die Verbitterung des Doktors tun. Laut Hypothese von Doktor Igor liegt der Grund für’s Verrücktsein in der Verbitterung: Weil alles immer langweiliger, routinierter wird. „Was soll man dem Menschen sagen, der nicht mehr leben will. Veronika hat das System durchschaut. Wir müssen neu anfangen, das ist die einzige Chance gegen Verbitterung.“

Veronika und Eduard wollen neu anfangen, so wie auch Mari. Sie ist in der Klinik, weil ihr „die da draußen“ zu verrückt sind. Sie litt dort unter Panikattacken – von Rita Feldmeier kurzatmig, innerlich zitternd, anrührend gestaltet. Mari will sich jetzt aber wieder unter die „normalen“ Menschen wagen. Nach vielen vergeblichen Anläufen greift sie am Ende wirklich zum Koffer. Wie auch Zedka. Doch bei ihr ahnt man, dass sie die Klinik weiter braucht. Das kleine quirlige Mädchen, das wie ein Jojo über die Bühne hüpft und sich so herrlich freuen kann. Im nächsten Moment aber bricht sie wieder in sich zusammen, weint bittere Tränen (Jennipher Antoni gibt diese Ambivalenz sehr ausdrucksstark wider). Der verklemmte Tonto (Henrik Schubert), der egomanische Sebastian (Philipp Mauritz) und der verkannte Sänger Heinrich (Helmut G. Fritzsch) – sie alle brauchen dieses Behütetsein, um ihre Verrücktheit leben zu können. Dank der schauspielerischen Kraft gelingt der Inszenierung ein facettenreiches Figuren-Kaleidoskop, das einem zum Teil zwar fremd bleibt, aber Andersartigkeit näher rücken lässt.

Am Ende finden alle wie bei einer Revue auf der Bühne zusammen und singen Aimee Manns „It’s not going to stop“. Hollywood lässt grüßen, und auch Coelho wäre sicher einverstanden gewesen. Ansonsten gelang es weithin, seine moderne „Bibel“ weniger an der Ideologie als am einzelnen Leben zu erzählen.

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