Kultur: Ohne Legenden
Blamberger stellte seine Kleist-Biografie vor
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Dass nach drei erst im vergangenen Jahrzehnt erschienenen Biografien von Heinrich von Kleist auch in diesem Jahr, anlässlich seines 200. Todestages, abermals zwei neue Lebensbeschreibungen des Dichters den Buchmarkt bereichern, mag kaum verwundern. Dennoch hat Günter Blamberger, als ihn der Fischer Verlag schon vor Jahren mit dem Anfertigen einer für 2011 geplanten Biografie beauftragte, nicht gewusst, dass noch andere Autoren mit Gleichem beschäftigt waren. Eine kleine Sonderstellung auf dem reichhaltigen „Kleist-Markt“ dürfte Blambergers Buch jedoch schnell einnehmen. Nicht nur, weil hier viele der bekannten Mythen und Thesen, denen Kleists biografische Leerstellen Nahrung geben und die er sogar in seinen Briefen angefeuert hat, sehr kritisch betrachtet und oftmals zurückgewiesen werden, sondern auch durch die Annäherung an die Person Kleist, dessen Freitod nicht wie so oft sofort reißerischer Ausgangspunkt ist.
Als Blamberger am Donnerstagabend in der erfreulich überfüllten Kleistschule die Einleitung seiner Kleist-Biografie vorliest, wird klar, dass er nicht daran interessiert ist, Kleists Leben als eine Reihe von Katastrophen aufzubauen und es aufgrund des rätselhaften Suizids unter Melancholieverdacht zu stellen. Er versucht, Kleists Leben von seinen Anfängen und Prägungen her zu verstehen, nennt den Soldat, den Student, den Beamten, den Dichter Kleist einen „Projektemacher“, dessen Hier und Jetzt er begreiflich machen will. Und vor allem stellt er Fragen.
Weshalb diese radikale Abkehr vom deutschen Idealismus? Woher diese Maßlosigkeit, die gewalttätigen Fantasien bei diesem Menschen mit dem rosigen Bubengesicht? Dass Kleist bereits als 15-Jähriger in den Krieg zog und als Unteroffizier im Potsdamer Garderegiment lernen musste, einfache Soldaten zu drillen, die viel älter waren als er, erwähnt Blamberger. Aber der langjährige Präsident der Heinrich-von-Kleist-Gesellschaft will in seinem Buch keine Legenden fortstricken, will sich allein auf das allerdings spärliche Quellenmaterial verlassen und kann so nicht anders, als zugleich eine Werkschau mitzuliefern, von der auf Kleists Leben rückgeschlossen wird. Doch versandet das Buch des Germanistikprofessors Blamberger keinesfalls im Expertenkauderwelsch, viel zu klar, zu angenehm der Ton und gewissermaßen höflich die frechen Bemerkungen.
Woher wissen wir, ob Kleist Kant gelesen hat, fragt Blamberger, sich von der sogenannten „Kantkrise“, Kleists Erschütterung angesichts der Unmöglichkeit, jemals in den Stand der Wahrheit zu kommen, distanzierend. Und als die berüchtigten „Zuchtbriefe“ an Kleists Verlobte Wilhelmine von Zenge zur Sprache kommen, legt Blamberger sie in einen historisch-gesellschaftlichen Kontext und verweist auf Kleists permanente, letztlich erfolglose Bettelei um Wilhelmines Liebe in all diesen Briefen. Ein merkwürdig oft übersehener Aspekt.
Was den profilierten Kleist-Forscher Blamberger an diesem Abend immer wieder auszeichnet, ist seine anregende, bisweilen scherzhafte Art, die gut 120 Gäste auch zu unterhalten. Seien es die Überlegungen zu Kleists angeblicher Homosexualität, die kleine Abrechnung mit dem maßvollen Goethe, der Kleists Chaos nicht verstanden habe, oder schließlich der für viele Kleist-Biografen maßgebliche, tatsächlich jedoch nicht existierende Obduktionsbericht, demnach bei der Untersuchung des Leichnams Kleists eine Knochensäge an dessen Schädel zerbrach. Legendenkurzweil, aber an richtiger Stelle. Daniel Flügel
Daniel Flügel
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